Die Quelle
konnte nicht
anders sein! Eine zweite Stimme regte sich in ihr, wollte dem Treffen zusagen,
als wäre Sandras Wille entzwei gerissen worden. Das Gefühl
lähmte ihre Gedanken und ihre Entscheidungskraft. Sie brauchte Hilfe... einmal
mehr… Fast erleichtert war sie aufzustehen und der Pflicht zu antworten zu
entkommen. Es kam ihr vor, als könne Daniel sie sogar durch das Bildschirm
hindurch erreichen. Fluchtartig verließ sie ihr Zimmer und klopfte an
Veronikas Tür.
„Ja, komm rein.“, hörte sie ihre Mutter sagen. Sie
stürmte regerecht in das Zimmer und Veronika sah erschrocken von ihrem
Buch auf.
„Was ist los?“ Noch während sie fragte,
offensichtlich ohne eine sofortige Antwort zu erwarten, stand Veronika auf und
legte einen Arm um ihre Schultern. „Komm, komm mit, reden wir…“
Sandra atmete tief durch, während ihre Mutter sie
aus ihrem Zimmer hinaus in Richtung der Treppen führte. Wie immer, ahnte
ihre Mutter, was sie brauchte, wie immer, war sie für sie da und
würde sie verstehen…
*
Leise drehte Lisa ihren Schlüssel in das Schloss der
Haupttür des Hauses und trat ein. Zum Glück knarrte die Tür
nicht, zum Glück hatte niemand in ihrer Familie Geschmack daran gefunden, eines
dieser Glockenspiele an die Tür anzubringen. Dass niemand sie sehen
würde, wusste sie, denn sie war sich ihrer Vorahnung sicher. Sie hegte
keinerlei Zweifel daran, dass ihre Mutter gerade im Wohnzimmer mit ihrer
Großmutter sprach... Es würde nicht lange dauern, und sie würde
wieder nach oben gehen, um die E-Mail ihres Vaters zu löschen. Es
würde genau das eintreffen, was sie gesehen hatte! Lisa huschte die Treppe
zu den Schlafzimmern hoch und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, die
knarrende Stufe zu meiden. Rasch schlüpfte sie in das Zimmer ihrer Mutter.
Auf dem Bildschirm war noch immer die Nachricht ihres Vaters geöffnet, genau
wie sie es aus dem Klassenzimmer heraus durch die Augen ihrer Mutter gesehen
hatte. Sie nahm einen Zettel und einen Kugelschreiber vom Schreibtisch ihrer
Mutter, um die E-Mailadresse ihres Vaters zu notieren und verließ kurz
darauf das Zimmer, dankbar für die neuen Fähigkeiten, die ihr das
Abfangen der Nachricht ermöglicht hatten.
Einen Augenblick später war sie wieder im
Eingangsflur des Hauses und rief mit gespielter unschuldiger Stimme laut nach
ihrer Mutter. Lisa hatte ihren Vorwand schon gefunden. Nicht sehr originell,
aber einfach genug, um wahr sein zu können. Als ihre Mutter erstaunt aus dem
Wohnzimmer trat, hatte Lisa bereits eine leidende Miene aufgelegt.
„Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen. Der
Mathelehrer hat mich nach Hause geschickt.“
*
Nach dieser erfundenen Kopfschmerzgeschichte, blieb Lisa
nichts anderes übrig, als in ihrem Zimmer zu bleiben. Sie lag in ihrem
Bett und sah enttäuscht auf das Glas Wasser und die Schmerztablette, die
ihre Mutter auf ihrem Nachttisch hinterlassen hatte. Natürlich hatte sich
ihre Vision bewahrheitet, doch freuen konnte sich Lisa darüber nicht. Ihre
Mutter hatte sie wie so oft zuvor verraten. Sie hatte ihr nichts von Daniels E-Mail
erzählt, sie hatte ihrer Tochter einmal mehr den Vater entzogen. Von ihrer
Mutter durfte sie wohl nichts erwarten. Aber von ihrem Vater! Lisa musste gegen
ihre Unruhe ankämpfen. Sie konnte es kaum erwarten mit ihrem Vater Kontakt
aufzunehmen... Sie hatte nur eine E-Mailadresse und musste bis zum
nächsten Tag warten, um in ein Internetcafé gehen zu können.
Einmal mehr ärgerte sie sich darüber, nicht über einen eigenen
Computer zu verfügen, wie die meisten ihres Alters. Ihr blieb jetzt nichts
anderes übrig, als zu warten. In dem Versuch zu Ruhe zu kommen, lehnte sie
sich zurück und versuchte sich vorzustellen, wie ihre erste Begegnung mit
ihrem Vater wohl verlaufen würde. Was würde sie ihm sagen?
Kaum hatte sie die Augen geschlossen, um ihren
Tagträumen nachzugehen, sank Lisa trotz der frühen Stunde in einen
unruhigen, von wirren Träumen geplagten Schlaf. Sie hörte laute,
schmerzerfüllte Schreie, die durch einen dichten Wald zu hallen schienen.
Bäume krachten und ächzten, als würde die Natur im Einklang mit
den Menschen leiden… Den Geräuschen folgten Bilder. Bilder eines Waldes,
mit Bäumen so hoch, dass Lisa schwindelig wurde. Sie schienen ihr etwas
zuzuflüstern, ihr dunkle Geheimnisse anvertrauen zu wollen. Lisa sank
tiefer in ihre Traumwelt… Sie ging über den moosbewachsenen Boden dieses
so lebendig wirkenden Waldes, versuchte durch das erträumte
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