Die Quelle
Dickicht mehr
zu erkennen… Die Bäume bogen sich im Wind, als würden sie absichtlich
zur Seite weichen, um ihr einen kurzen Blick auf die grausame Szenerie zu
gewähren, die sie zuvor gehört hatte. Plötzlich war Lisa
inmitten des Geschehens. Sie sah auf eine Lichtung, ein Reiter mit einem
Schwert in der Hand kam ihr im vollen Galopp entgegen, sein Gesicht sah sie
hasserfüllt an. Er holte aus. Lisa schreckte zurück, das Schwert
schlug nieder und traf… doch nicht sie war das Opfer. Ein enthauptetes Kind
brach vor ihr zusammen, sein Blut spritzte ihr entgegen. Sie wollte schreien,
doch in diesem Augenblick lösten sich die kriegerischen Bilder auf…
…Lisa stand am Meer. Ein alter Mann versuchte sie zu
beruhigen, er hatte ein gütiges Gesicht... Giorgio... Plötzlich
verschwand das Gesicht, ließ Platz für das Gesicht ihrer Mutter, als
sie noch jünger war.... Sie schrie entsetzlich... Doch auch dieses Bild
verschwand und Lisa sah einmal mehr den See, gehüllt in leuchtendem blauen
Nebel. Sehnsucht erfasste sie bei diesem Anblick, Sehnsucht so stark, dass sie
nicht nur ihren Geist vollständig erfüllte, sondern auch ihrem
Körper bittere Tränen entriss…
Schweißgebadet wachte Lisa mitten in der Nacht auf.
Sie weinte noch immer und verspürte kaum Erleichterung, ihren Träumen
entkommen zu sein. Sie waren ihr so real vorgekommen; dass die Bilder und die
Gefühle, die sie in ihrer Traumwelt heimgesucht hatten, sich tief in ihre
Seele eingenistet hatten. Sie versuchte die Grausamkeiten beiseite zu schieben
und nur an den See zu denken... So rein, so mächtig… von Leben
erfüllt… Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder dort
zu sein... An diesem Ort, den sie nicht kannte.
*
Es blieb Lisa nichts anderes übrig, als aufzustehen,
denn zu sehr fürchtete sie einzuschlafen und ihre Träume
fortzusetzen. Ohnehin war sie ein wenig hungrig, hatte sie doch das Abendessen
verpasst. Sie entschied sich dafür, in der Küche nach einer
kulinarischen Ablenkung zu suchen.
Im Kühlschrank fand sie auf einem
mikrowellengerechten Teller, die Reste des Abendessens angerichtet. So
vorausschauend war ihre Großmutter und so liebevoll kümmerte sie
sich immer um sie! Lisa war ihr dafür nicht nur dankbar, sie liebte sie
dafür. Sie schob den Teller in die Mikrowelle und setzte sich an den
Küchentisch, um schläfrig und verwirrt auf das erlösende Klingeln
des Gerätes zu warten. Plötzlich hörte sie Schritte die Treppen
herunterkommen. ‚Bitte nicht meine Mutter!’, ertappte sie ihren eigenen Gedanke
und verspürte noch im selben Augenblick Gewissensbisse.
Es war Veronika, die an der Küchentür erschien
und Lisa seufzte erleichtert. Ihre Großmutter hatte dicke Ränder
unter den Augen, doch sie lächelte warm, als sie zufrieden feststellte,
dass Lisa ihr Abendessen gefunden hatte. Sie rückte sich ein Stuhl zurecht
und gesellte sich zu ihr.
„Ich habe Schritte gehört, ich dachte mir schon, dass
du das bist. Geht es dir besser?“
Lisa musste kurz überlegen, was ihre
Großmutter meinte, ehe ihr die Kopfschmerzen wieder einfielen, die sie
vorgetäuscht hatte.
„Ja, schon wieder gut. Ich hatte nur Hunger...“
Die Erinnerungen an den vergangenen Tag kehrten
zurück. Ihr Vater hatte sich per E-Mail gemeldet, ihre Mutter hatte mit
ihrer Großmutter gemeinsam entschieden ihr davon nichts zu verraten.
Weshalb? Ihre Großmutter hatte sie doch bisher immer unterstützt!
Lisa entschied kurzerhand, dass der Zeitpunkt perfekt war, um ihre
Großmutter auszufragen.
„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass mein Vater sich
gemeldet hat?“ Wie verbittert ihre Stimme geklungen hatte, wurde ihr erst
bewusst, als sie Veronikas Gesichtsausdruck sah. Offensichtlich fühlte sie
sich ertappt und war zugleich erstaunt. Das war auch kaum verwunderlich.
Vermutlich wunderte sich ihre Großmutter, woher Lisa von der Nachricht
wusste. Sollte sie sich weiter wundern, allein ihre Antwort war jetzt wichtig.
„Weil ich Angst habe, Liebes. Meine Tochter kommt
schwanger und vollkommen verwirrt aus Italien zurück. Wer glaubst du,
trägt die Schuld? Wieso sollten wir dieses Monster noch einmal in unser
Leben lassen?“
„Monster? Du sprichst von meinem Vater!“
„Ich weiß, und ich nenne ihn dennoch ein Monster.
Das steht mir zu, nach allem, was er uns angetan hat!“
Veronika hätte sicher noch länger ihren Vater
beschimpft, ihr Redeschwall wurde jedoch vom Klingeln der Mikrowelle
unterbrochen. Lisa stand auf,
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