Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Sinnlichkeit, die Irene Teile ihres Körpers und ihrer Seele hatte spüren lassen, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie besaß. Ihr war, als hätte sich in ihrer Leidenschaft eine neue Tür aufgetan, eine Bewusstseinserweiterung ihres gesamten Wesens.
Sie legte den Stift weg.
» Ich kann das nicht « , sagte sie. » Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich mache es später. «
Perjanu kam hinzu. Sie konnte spüren, wie die beiden Einhörner sich über ihren Kopf hinweg ansahen. Sie kommentierten Irenes Entscheidung nicht. Vielleicht fanden sie sie falsch. Doch sie mischten sich nicht ein.
» Wir sollten los « , sagte Irene. » Unterwegs können wir noch mal beim Laden halten und Obst, Salat und Müsliriegel kaufen. Die mochtet ihr doch? «
Sie stand auf und nahm ihren Rucksack. Sie sollte ihn packen, wusste aber nicht, was sie hineintun sollte, so wie sie nicht wusste, was sie an Martin schreiben sollte. Was packte man ein, wenn man nicht wusste, ob man je zurückkam? Was war wichtig? Was war nutzlos?
» Wir wollten zur St. Caolán’s Quelle « , sagte sie. Es war ganz still im Cottage. » Und eventuell durch sie hindurch « , fügte sie entschlossen an.
» Wenn wir durch die Quelle gehen, gehen wir ohne dich! « , widersprach Esteron. » Wir können dich nicht mitnehmen. Wir wissen nicht, ob wir selbst einen zweiten Übergang überleben. Wir wissen auch nicht, ob es in unserer Macht steht, dich mitzunehmen, oder ob der Versuch dich töten würde. «
Er streichelte ihr sanft über den Rücken.
» Ich will nicht an deinem Tod schuld sein, Irene « , fügte er hinzu.
» Und ich will meine Tochter zurück « , antwortete sie. » Ihr seid durch die Welten geschritten, um deinen Sohn zu suchen. Warum glaubt ihr, ich wäre weniger mutig? «
Esteron drückte Irene sanft auf ihren Stuhl zurück, zog sich einen zweiten heran und setzte sich neben sie.
» Es hat nichts mit Mut zu tun « , sagte er. » Menschen sind schwächer. Das ist keine Beleidigung. Es ist einfach eine Tatsache. Das heißt nicht, dass ihr weniger wert seid. Es heißt nicht, dass ihr weniger könnt. Vielleicht könnt ihr sogar mehr als wir. Andere Dinge. Aber sowohl physisch als auch … magisch … seid ihr schwächer. Ich muss das mit berücksichtigen. «
» Nein. Musst du nicht. Du bist nicht für mich verantwortlich. Du bist Perjanus Fürst – nicht meiner. Ich entscheide, was ich tue, nicht du. Du magst stärker sein als ich, aber das hat nichts damit zu tun. Es geht hier nicht um Kraft. Es geht um Liebe und Verantwortung. «
Er stand auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
» Dann komm! « , sagte er.
Etwas wahllos warf Irene Dinge in den Rucksack. Dabei war ihr Blick nach innen gerichtet und nicht auf das, was sie tat oder darauf, ob sie das Richtige einpackte. Sie trat als Letzte aus dem Cottage, und als sie die Tür hinter sich verschloss, starrte sie es an. So viele Jahre hatten sie hier schöne Tage verbracht. Doch noch einmal würde sie das Cottage nicht buchen, egal, was geschah. Was vorbei war, war vorbei.
Was immer geschehen würde, das hier war vorüber. Sie legte den Schlüssel in den Blumentopf neben dem Eingang.
Sie frühstückten auf dem Weg, und hielten dann an einem kleinen Kramerladen, um ihre Vorräte aufzustocken. Wie aus Trotz kaufte Irene viel zu viel, als wollte sie damit besiegeln, dass die beiden Einhörner ihr noch lange in dieser Welt erhalten bleiben würden.
Unas Fahrrad stand immer noch oben am Hügel. Irene fuhr mit der Hand daran entlang, als könnte es die Liebkosung weitergeben.
» Was tun wir jetzt? « , fragte sie, als sie an der Quelle angelangten.
» Dies ist ein starker Ort « , antwortete Perjanu. » Er weist große Energie auf. Ich weiß nicht, ob das nötig ist, um einen Übergang zu generieren, doch es liegt nahe. «
Esteron lief argwöhnisch den Bachlauf entlang und wieder zurück.
» Es gibt weitere Quellen, die wir noch nicht geprüft haben « , sagte Irene. » Bevor ihr – wir – gehen, sollten wir dort vielleicht noch nachsehen. «
» Glaubst du das denn? « , fragte Perjanu. » Glaubst du, deine Tochter hat Kanura kennengelernt, ihr seltsames Gefährt im Stich gelassen und ist mit ihm losgezogen – durch diese Welt, ohne dir Bescheid zu sagen? «
Irene glaubte es nicht.
» Wie viele Quellen sollen wir prüfen? « , fragte er noch einmal. » Wir wissen, dass Kanura hier war. Doch nun ist er verschwunden. «
» Dann « , Irene schluckte vor
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