Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
respektlose, kratzbürstige, und irgendwie schon sehr niedliche Menschenfrau, deren Wohlergehen ihm am Herzen lag – wo doch sein Kopf die durchaus bessere Wahl für die Erfüllung seiner Beschützerpflicht gewesen wäre.
Doch sie war davongestürmt und hatte ihn allein gelassen. Dabei hatte er gedacht, dass sie einander in dieser Notsituation beistehen würden. Vielleicht hätte er sie nicht bitten sollen, ihm zu helfen, die Tür wieder zu schließen. Das musste sie missverstanden haben. Vielleicht hatte sie irgendwie die Magie gespürt, die er verbraucht hatte, wusste, dass nur sie ihm diese wieder zurückgeben konnte.
Sie hatte ihn panisch angeblickt und sich dann wie ein Wirbelwind umgedreht. Ihre roten Locken hüpften, als sie losrannte. Kanura hatte noch versucht, sie festzuhalten, doch ihre Arme schienen so zart, und er hatte Angst, ihr wieder wehzutun. Menschenmädchen waren irgendwie zerbrechlich. Das war ihm vorher nie aufgefallen. Vielleicht wirkte auch nur Una so. Jedenfalls war sie ihm entwischt. Schon wieder.
Noch einmal versuchte er, die beiden Türflügel zu schließen und den verbogenen Riegel vorzuschieben. Doch vergebens – kaputt war kaputt.
Er blickte sich um. Auf dieser Seite der Türe war der Gang so hoch und breit wie die in Kerr-Dywwen. Mit ziemlicher Sicherheit waren sie für Einhörner in ihrer höchsteigenen Gestalt gebaut und nicht für Menschen. Im Regenbogenlicht der schmalen Fenster mit den Butzenscheiben sah er, dass die Gänge kunstvoll ausgestaltet waren, allerdings ganz anders als in Kerr-Dywwen, dessen Ornamentik verspielt und variantenreich war. Die Verzierungen hier besaßen eine sehr rechtwinklige Ordnung. Auf den ersten Blick war es beeindruckend. Eine strenge Pracht, groß angelegt, gleichförmig und eckig. Dennoch wirkte es zu gigantisch und hinterließ nach erstem Staunen in Kanura eine freudlose Leere.
Aber er hatte keine Zeit, sich näher mit seiner Umgebung zu befassen. Er musste Una wiederfinden, ehe es ein anderer tat. Er wollte nicht, dass ihr etwas zustieß. Nicht mehr, als ihr schon passiert war. Ihre Musik klang noch in seinem Innersten. Sie hatte eine Verbindung erzeugt, die – von den Umständen und der Angst einmal abgesehen – eine seltsame Innigkeit hatte.
» Una! « , flüsterte er und wusste nicht, ob es ratsam war, nach ihr zu rufen, doch dann tat er es trotzdem. » Una, wo bist du hin? «
Keine Antwort, seine Stimme hallte zu laut durch den Gang, deren kalte Leere so erschreckend war wie der Gedanke, dass er jeden Augenblick nicht mehr leer sein mochte.
Obwohl es Kanura widerstrebte, der kaputten Tür den Rücken zuzukehren, ging er los. Abzuwarten, welches Wesen daraus hervorbrechen würde, empfahl sich ohnehin nicht, und er musste weiter, um zu sehen, ob sie hier herauskommen konnten. Und wie. Und wohin.
Mit Una. Der » Deal « , den sie so nobel angeboten hatte, war seit der Entdeckung der Leichen hinfällig. Dabei traute er sich durchaus zu, seine Seelenkraft durch ihre Musik zu befeuern, ohne ihr zu schaden. Schließlich wollte er nicht so sein wie die Herren dieses Reiches, die nichts als Leichen übrig gelassen hatten.
Seine Schritte hallten von den steinernen Wänden wider. Er eilte voran. Immer wieder warf er einen Blick hinter sich, um nicht von einem oder mehreren Verfolgern überrascht zu werden. Regelmäßig kreuzten Korridore seinen Weg, dann nahm er jeweils den, der aufwärts führte. Ob Una ebenso entschieden hatte, wusste er nicht. Er konnte ja noch nicht einmal sagen, warum er sich so entschied. Je weiter er nach oben kam, desto mehr entfernte er sich von einem möglichen Ausgang.
Dennoch trieb es ihn weiter das Gebäude nach oben. Es drängte ihn dazu, jenen Raum zu sehen, von dem aus man den Musikern zugehört hatte.
Er kam nur an wenigen Türen vorbei. Sie alle waren für die Größe von Einhörnern ausgelegt: hohe, weite Doppeltüren. Er drückte jede Klinke herunter, aber sie blieben verschlossen. Wenn er nicht in der Lage war, sie öffnen, war anzunehmen, dass Una es auch nicht gekonnt hatte.
Bisweilen lauschte er, ob er sie hörte. Doch das Einzige, das er vernahm, waren die scharrenden Geräusche hinter ihm. Er versagte es sich zu rennen, um seinen Verfolgern zu entgehen. Früher oder später würde er sich ihnen stellen müssen, und dann sollte er besser nicht erschöpft und außer Atem sein.
» Una? « , wisperte er wieder. Wenn Sto-Nuyamen so groß war wie Kerr-Dywwen, würde man tagelang darin herumirren
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