Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Gesicht, als der Gast den Kopf neigte.
» Er ist … er war … ich dachte immer … «
» Der Sohn des Fürsten! « SIE klang zynisch. » Du hattest dich entschieden. Ihr alle hattet euch entschieden. Alles sollte anders werden. Alles wird anders. Der Sohn des Fürsten wird nicht mehr gebraucht. «
Der Gast ließ sich auf den Decken, Fellen und Teppichen nieder, die hier im Gebirge als Lagerstatt dienten. Dass es Tag war, konnte man an einem schmalen Streifen Lichts erkennen, der durch einen winzigen Spalt im Fels eindrang wie eine Klinge aus einem einzigen Sonnenstrahl. In dem dünnen Lichtfaden tanzte der Felsenstaub.
» Manchmal weiß ich nicht so recht … « , sagte der Gast zweifelnd.
SIE lachte. Es war schön, lachen zu können. SIE nahm IHR weißes Haar in eine Hand, spannte es und strich mit den Krallen der anderen Hand darüber wie mit einem Bogen. Eine seltsam schnarrende Musik ertönte. Sie erfüllte den Raum, stopfte ihn beinahe voll mit Klängen und schierer Macht. SIE sang:
» Richtig und recht,
nichtig und schlecht.
Du willst den Sieg für dich,
denn Enge liegt dir nicht.
Groß wirst du sein,
nicht klein, nicht klein, nicht klein. «
Der Gast seufzte und streckte sich auf dem Lager aus.
» Es hat schon alles seinen Sinn. « Es klang, als wollte der Gast sich damit selbst überzeugen und wäre immerhin mäßig erfolgreich.
» Natürlich « , gab SIE zur Antwort und teilte dann Worte aus wie Spielkarten. » Natürlich, gebührlich, willkürlich, ausführlich, possierlich, manierlich. Probier nicht, was dir nicht liegt. Du weißt, was du willst. «
SIE kicherte und summte, drehte sich auf mannigfachen Füßen wie im Tanz, umflossen von einer Musik aus wirren Reimen. SIE wusste, was Tanz war. Das Gedächtnis, das sich in IHR angesammelt hatte, vermittelte IHR eine Definition wie eine Erinnerung. SIE tanzte allein, mal auf diesem Bein, mal auf jenem. SIE hatte die Auswahl.
SIE war nie allein und doch allein. Denn letzten Endes zählte der Gast nicht, mit oder auch ohne Skrupel.
Zweck und Ziel, sagte SIE sich, während SIE weiter einen Tanzschritt nach dem anderen setzte, aus der Gästehöhle hinaus, den Gang hinunter, die Decke entlang.
SIE hatte ein Ziel. Und der Gast war so etwas wie ein Zweck.
Kapitel 48
Der Raum war riesig. Die Decken waren hoch und das Dekor so überdimensioniert gestaltet wie alles in dieser fremd anmutenden Burganlage. In der Mitte des Raumes befand sich ein Brunnen mit einem Durchmesser von etwa drei Metern. Die äußere Umfriedung war mit geometrischen Reliefs verziert, die um das Rund meanderten. Im Gegensatz zu den Zierbrunnen, die Una kannte, gab es aber keinen wie auch immer geschmückten Wasserspeier in der Mitte. Hier spuckten keine Frösche, römische Gottheiten oder Fabelgestalten Fontänen in die Luft. Hier war nichts verspielt oder fröhlich.
Vielmehr wirkte der Brunnen wie ein stiller, kleiner Weiher. Sehr blau. Sehr tief. Sehr rund. Una erinnerte sich an den Yellowstone Nationalpark, den sie im Zuge einer USA -Reise mit ihrer Mutter besucht hatte. Dort hatte es vulkanische Heißwasserquellen gegeben, die ähnlich kreisrund und hypnotisierend blau gewesen waren. Auch dieser Brunnen wirkte, als reichte er bis tief in die Eingeweide der Erde.
Una stand unschlüssig davor. Durch ein Gewässer war sie gekommen. War es möglich, durch ein Gewässer wieder zurückzufinden? Hoffnung keimte in ihr auf. Konnte sie das allein bewerkstelligen? Oder musste man dazu Magie beherrschen?
Vielleicht war diese Quelle ja von alleine magisch? Vielleicht war diese Welt selbst magisch; hatte Kanura nicht gesagt, er zöge seine Kraft gewöhnlich aus der Welt um ihn herum? Vielleicht brauchte Una keine eigene Magie, nur den Mut, es zu versuchen?
Sie wollte nach Hause. Unbedingt. Vermutlich war es nicht allzu intelligent gewesen, Kanura davonzulaufen. Sie würde ihn doch nur wieder suchen müssen, denn ohne ihn war sie verloren.
Mit ihm war sie allerdings auch nicht sicher. Dennoch zog es sie zu ihm. Ob das an seiner Magie lag? Oder einfach nur an der Tatsache, dass er ein ziemlich toller Mann war, wenn man alles andere beiseiteließ. Aber sie konnte nicht alles andere beiseitelassen. Dazu war zu viel geschehen.
Sie selbst war es gewesen, die ihm das Lied zur Heilung gesungen hatte. Er hatte sie nicht darum gebeten. Und sie war es gewesen, die ihm einen Deal angeboten hatte. Freiwillig.
Sie hatte die Arme gemocht, die sie gehalten hatten, bevor sie die ganze Wahrheit
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