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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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bis auf die Kentauren, die nicht so wirkten, als gehörten sie so richtig hierher. Doch die Pferdemenschen hatten Kanura und sie zielstrebig hierher gebracht. Wenn es hier nichts und niemanden gab, warum hätten sie das tun sollen?
    Mühsam rappelte sich Una hoch und schlich sich zu dem schmalen Fensterspalt. Er war unverglast und sah eher aus wie eine Schießscharte. Von der Seite spähte sie vorsichtig hinaus. Ein kleiner Innenhof lag unter ihr im Schatten der hohen Mauern. Auf der anderen Seite war ein weites Doppeltor. Es sah unverschlossen aus.
    Aber dort ging es hinaus. Einen Augenblick lang erfüllte Hoffnung Unas ganzes Wesen. Dann erstarb das Gefühl, als habe es sich an der Aussichtslosigkeit der Situation zerschlagen. Selbst wenn sie hier unbemerkt davonkam – wohin sollte sie schon gehen? Diese Welt war feindlich. Wenn man sie nicht umbrachte, würde sie verhungern.
    Sie hatte kaum an diese letzte furchtbare Möglichkeit gedacht, als ihr Magen lautstark eine Meinung dazu abgab. Sie hatte Hunger. Sie wusste nicht einmal, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Bislang hatte sie weder Zeit noch Muße gehabt, darüber nachzudenken. Sie war von einer Katastrophe in die nächste gestolpert, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr der Magen knurrte oder nicht. Doch die Bedürfnisse des Körpers ließen sich einfach nicht mehr verdrängen.
    Verhungern. Wenn man in einem reichen, westlichen Land aufwuchs, war das Wort etwas wie ferner Donner. So etwas erreichte einen nicht. Hunger war etwas, das weit weg war, etwas, bei dem man die Betroffenen bedauerte, etwas Geld spendete und sich dann den nächsten Snack aus dem Kühlschrank holte.
    Jetzt war die Gefahr für Una plötzlich sehr real. Wie sollte sie an etwas Essbares kommen – in einer verlassenen Burg, ohne Geld, ohne Laden, ohne irgendwas? Wovon hatten die Menschen gelebt, die hier den Mardoryx gedient hatten? Irgendwas mussten doch auch sie gegessen haben. Verhungerte Sklaven waren nicht wirtschaftlich. Da wurde der Service schlecht.
    Sie ließ den Blick über den Raum schweifen, doch da war nichts, was ihr essbar erschien.
    Una nahm ihren Rucksack ab, der ihr kalt und nass auf dem Rücken klebte. Alles an ihr war immer noch feucht von ihrem Erlebnis im Brunnen. Die Erinnerung daran ließ das Blut kälter durch ihre Adern fließen. Wenn sie ertrunken wäre, würde sie jetzt nicht verhungern. Doch wer wollte schon von einem Monster ersäuft werden?
    Oder hätte der Kelpie sie tatsächlich zurück nach Hause gebracht? Sie glaubte es nicht. Die Mordlust in seinen Augen war zu deutlich gewesen, und das Angebot, sie in ihre Welt zu bringen, nichts weiter als ein Trick. Sie öffnete die Schnallen des Rucksacks mit ungeschickten Händen. Es war, als fehle es ihr an Feinmotorik. Adrenalin, das wusste sie, löste so etwas aus. Es konnte nicht mehr viel Adrenalin in ihr sein. Das Auf und Ab von Schock, Angst, Reaktion und Verteidigung hatte sie ausgelaugt. Vielleicht zitterte sie auch nur vor Kälte.
    Müsliriegel. Die hatte sie in der Aufregung völlig vergessen. Sie waren in Plastik verschweißt und vermutlich noch genießbar. Una riss den ersten Riegel auf und stopfte sich das klebrige Ding fast auf einmal in den Mund. Mit dicken Backen kaute sie daran, wollte sich schon den nächsten Riegel aufmachen, dann dachte sie an Kanura. Er musste auch Hunger haben. In seiner Einhorngestalt konnte er ja vielleicht grasen, aber jetzt? Was aß er als Mensch?
    Sie hatte ihn viel zu wenig gefragt. Im Grunde war sie den Ereignissen immer nur entweder hinterhergelaufen oder davor weggelaufen. Ihr wurde bewusst, dass sie noch kein vernünftiges Gespräch über Einhörner geführt hatte. Wie lebten sie in ihren zwei verschiedenen Erscheinungsformen? Wie lange lebten sie? Was hatte es mit der Magie auf sich? Wie konnte man sich dagegen wehren? Und wieso hatten Wesen, die ganz hervorragend auf eine mit Blüten übersäte Waldwiese passten, überhaupt Burgen?
    Una wusste nur Bruchstücke, ein Gesamtbild erschloss sich ihr nicht. Sie steckte die restlichen Müsliriegel wieder ein, obgleich sie noch Hunger hatte. Sie mussten eine Weile reichen für sie. Und für Kanura, falls er so etwas essen konnte. Dass er möglicherweise niemals mehr etwas essen würde, weil er bereits tot war – daran wollte sie nicht denken.
    Wie schon einmal durchsuchte sie den Rucksack und kam zu dem gleichen Ergebnis: Handy. Kamera. Schminktäschchen. Flötenkasten. Wasserflasche. Ein Apfel. Müsliriegel.

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