Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
sprechen können, hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte. Den Umgang mit Magie lernte man, doch die Fähigkeit an sich war angeboren. Wer sie nicht besaß, konnte sie nicht erlernen. Und Kentauren? Vielleicht wären sie nicht so brutal, wenn sie Magie beherrschten. Vielleicht sollten sie es auch nicht lernen, um nicht noch brutaler zu werden.
Wenn die Schmerzen dann aufhören würden, würde Kanura den Grauen Magie lehren. Doch es war alles zu spät. Er lag nur da und nahm immer weniger wahr. Ihm schien, als drifte die Welt in blutroten Schwaden von ihm fort. Was blieb, war Agonie.
Una, dachte er. Er hatte sie nicht allein lassen wollen. Doch genau das war sie jetzt. Allein. Auch sie würde nicht mehr allzu lange überleben. Hoffentlich brachten sie sie schnell um und machten sich nicht noch ein Vergnügen daraus, sie zu quälen.
Kapitel 57
Die Heimfahrt war eine Tortur. Die beiden Einhörner kannten keine Verkehrsregeln, aber sie hatten immerhin Instinkt genug, durch Rufe und Mahnen Irene immer wieder davon abzuhalten, aus lauter Desorientierung in Gräben oder auf andere Autos aufzufahren.
Irene parkte den Mietwagen mit krachendem Getriebe an der Einfahrt zum Cottage. Es war, als wären ihr bestimmte Fähigkeiten abhandengekommen, weil ihr Gehirn vollständig damit beschäftigt war, die Eindrücke wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge abzuspielen, als könnte sie irgendwann alles begreifen und dann ruhig werden.
Doch sie verstand immer noch wenig. Fragen über Fragen taten sich auf, und sie hatte nicht einmal die Kraft, sie zu stellen. Sie wusste nicht mehr, was wichtig war und was nicht. Alles, was sie zu wissen geglaubt hatte, war nun einfach nicht mehr gültig. Ihre gesamte Lebenserfahrung war zurück auf null gesetzt. Wie sollte sie Entscheidungen treffen oder sich einer Sache sicher sein, wenn sie sich nicht mehr auf ihren eigenen Verstand verlassen konnte. Sie war immer der Meinung gewesen, sich ohne Berührungsängste mit dem Außergewöhnlichen auseinandersetzen zu können. Sie hatte es sich sogar herbeigewünscht, dieses Außergewöhnliche. Ihre Weltsicht war in konzentrischen Kreisen angeordnet gewesen. Der innerste Kreis umfasste alles, was man sah und wusste, sich in Schule, Uni oder Beruf angeeignet hatte. Das normale Wissen, dass die Erde eine Kugel war, man Nahrungsmittel gesünder im Bioladen einkaufte und das Leben gewissen logischen Regeln unterworfen war, die die meisten Menschen befolgten, damit nicht alles im Chaos endete.
Darüber hinaus hatte sie auch immer noch an die Existenz weiterer Kreise geglaubt, die all das beinhalteten, was sich nicht mit physikalischem Wissen erschloss, was die Seele direkt ansprach und die man, so man nur wusste wie, auch wieder mit der Seele direkt ansprechen konnte. Spiritualität. Dabei war es für sie egal, ob es sich um Religion oder Esoterik handelte.
Wie hatte sie sich danach gesehnt, mehr als nur das Normale zu sehen und wahrzunehmen. Doch jetzt begriff sie, dass es das Gewöhnliche war, das einem Sicherheit gab. Es bedurfte ungeheurer Kraft, sich dem zu stellen, das man nicht verstand und – geprägt durch eine moderne Erziehung – letztlich für unmöglich hielt. Tatsächlich war sie viel weniger weltoffen, als sie gedacht hatte.
Einen Augenblick lang war ihr danach, die Tür ins Anderweltliche, an der sie so lange gerüttelt hatte, wieder zuzuschlagen. Auf uralten Karten, fiel ihr ein, hatte man früher an den Rändern der bekannten Welt den Kommentar » There be dragons « vermerkt – weil man nicht wusste, was dort zu erwarten war, weil man das Schlimmste befürchtete und nur die wenigsten je zurückkamen.
Nun war sie an den Rändern ihrer Welt angekommen, in einem Boot, das sie nicht zu steuern verstand, und es gab dort tatsächlich Ungeheuer.
Esteron zog sie aus dem Auto. Sie hatte dort reglos gesessen und vor sich hin gestarrt, völlig überfordert mit den einfachsten Dingen, wie etwa aus dem Auto zu steigen, während ihr Gehirn mit ganz anderen Herausforderungen kämpfte. Esteron legte seine starken Arme um sie, hielt sie, und sie widersetzte sich dem Drang, sich seiner Umarmung zu ergeben. Sie wusste nicht mehr, ob sie diesem Mann trauen konnte, auch wenn sein Körper sie stützte und seine Wärme ihre innere flatternde Kälte vertrieb.
» Du hast Besuch « , murmelte Esteron. Seine Stimme klang angespannt. Auch seine Haltung drückte Misstrauen aus.
Irritiert sah sich Irene um. Sie und Martin waren so viele Jahre
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