Die Rache Der Wache
zu bieten.«
Wess drehte sich noch einmal um. »Und du meinst, ich machte dieses Versprechen nur, weil ich Hilfe von dir erhoffte?«
»Nein«, sagte Lythande fest. »Frejöjan, ich wollte, ich hätte mehr Zeit — aber ich kann dir dies sagen. Letzte Nacht sprach ich mit Jubal.«
»Warum hast du nichts davon gesagt? Was weiß er? Hat er Satan gesehen?« Aber sie war sich klar darüber, daß sie an der Antwort keine Freude haben würde. Lythande hätte eine gute Nachricht nicht so lange zurückbehalten.
»Wird er mit uns sprechen?«
»Er hat euren Freund nicht gesehen, kleine Schwester. Er sagte, er habe keine Zeit, euch zu sehen.«
»Oh.«
»Ich bedrängte ihn. Er schuldet mir noch etwas, aber in letzter Zeit benimmt er sich merkwürdig. Er hat vor etwas anderem mehr Angst als vor mir, und das ist sehr seltsam.«
»Hat er wenigstens irgend etwas gesagt?«
»Er sagte — ihr solltet heute abend zum Platz vor dem Palast des Statthalters gehen.«
»Warum?«
»Westerly, das mag mit Satan nichts zu tun haben. Aber dort ist der Sklavenmarkt.«
Wess schüttelte verwundert den Kopf. »Wo die Sklaven zum Verkauf angeboten werden.«
Wut, Verzweiflung und Hoffnung - Wess' Gefühle waren so überwältigend, daß sie nicht antworten konnte. Lythande nahm die Stufen hinauf zu ihr mit einem Satz und legte seine Arme um sie. Wess zitterte, und Lythande streichelte sie.
»Wenn er dort ist — gibt es denn kein Gesetz, Lythande? Kann eine freie Person gefangen werden, und — und ...«
Lythande blickte zum Himmel. Das Licht der Sonne strahlte schon über die Dächer der Gebäude im Ostviertel der Stadt.
»Frejöjan, ich muß gehen. Falls euer Freund dort ist, könntet ihr versuchen, ihn zu kaufen. Die Händler hier sind nicht so reich wie in der Hauptstadt, aber arm sind sie auch nicht. Ihr brauchtet sehr viel Geld. Ich meine, ihr solltet euch statt dessen an den Statthalter wenden. Er ist ein junger Mann — ein Narr zwar, aber er versucht, gerecht zu sein.« Lythande drückte Wess ein letztes Mal und schritt davon. »Alles Gute, kleine Schwester. Bitte glaube mir, ich bliebe, wenn ich könnte.«
Wess betrat den Raum. Chan stützte sich auf einen Ellenbogen.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, begrüßte er sie.
»Ich kann selbst auf mich aufpassen!« entgegnete Wess scharf.
»Wess, Liebes, was ist los?«
Sie wollte ihm alles erzählen, konnte aber nicht. Schweigend stand sie da, starrte auf den Boden und kehrte ihrem besten Freund den Rücken.
Sie sah über die Schulter, als Chan aufstand. Durch den zerschlissenen Vorhang malte die Sonne Muster auf seinen Körper. Er hatte sich verändert, wie sie alle. Er war noch immer schön, aber dünner jetzt und härter.
Er berührte sanft ihre Schulter. Sie zuckte zusammen.
»Du bist verletzt!« stellte er erschrocken fest, als er die Blutspuren an ihrem Kragen sah. »Quartz!«
Quartz murmelte verschlafen in ihrer Decke. Chan wollte Wess zum Fenster bringen, wo das Licht besser war.
»Faß mich nicht an!«
»Wess ... «
»Was ist denn?« fragte Quartz.
»Wess ist verletzt.«
Quartz kam barfuß auf die beiden zu, und Wess stürzte, in Tränen aufgelöst, in ihre Arme.
Quartz hielt Wess genauso, wie Wess sie vor einigen Nächten gehalten hatte, als Quartz vor Heimweh und Sehnsucht nach ihren Kindern im Bett still geweint hatte. »Sag mir, was geschehen ist«, forderte sie Wess auf.
Wess sprach weniger von dem Überfall selbst, als von dem, was Lythande ihr darüber und über Freistatt erzählt hatte.
»Ich verstehe«, sagte Quartz, als Wess ihr einiges berichtet hatte. Sie strich über Wess' Haar und wischte ihr die Tränen von der Wange.
»Ich nicht«, gab Wess zu. »Ich werde wahrscheinlich verrückt, daß ich mich so benehme!« Und wieder begann sie zu weinen. Quartz brachte sie zu den Decken, wo Aerie saß und verwirrt ins Licht blinzelte. Chan folgte ihnen, nicht weniger verwundert. Quartz half Wess, sich niederzusetzen, nahm neben ihr Platz, und legte wieder den Arm um sie. Aerie rieb ihr Hals und Rücken und breitete die Flügel um die beiden.
»Du wirst nicht verrückt«, beruhigte Quartz sie. »Du bist nur nicht daran gewöhnt, wie die Dinge hier ihren Lauf nehmen.«
»Ich möchte mich auch nicht daran gewöhnen, ich will Satan finden und wieder nach Hause gehen.«
»Ich weiß«, flüsterte Quartz. »Ich weiß.«
»Aber ich nicht«, protestierte Chan.
Wess schmiegte sich an Quartz; sie war nicht in der Lage, irgend etwas zu sagen, was Chan für den
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