Die Rache Der Wache
Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, entschädigen würde.
»Laß sie eine Weile allein, Chan«, forderte Quartz ihn auf. »Laß sie sich ausruhen, und es kommt wieder alles in Ordnung.«
Quartz legte Wess sanft nieder. Zwischen Quartz und Aerie, die ihre Flügel über sie alle gebreitet hatte, schlief Wess ein.
Wess erwachte am Vormittag. Der Kopf tat ihr weh, und der schwarze Fleck auf den Rippen schmerzte bei jedem Atemzug. Sie sah sich im Zimmer um. Neben ihr saß Quartz, die einen Riemen an ihrem Rucksack ausbesserte und sie jetzt anlächelte. Aerie bürstete ihr kurzes, schwarzes Fell, und Chan starrte aus dem Fenster; einen Arm stützte er auf das Fensterbrett, das Kinn ruhte auf der Hand, und sein Hemd lag über den Knien.
Wess stand auf und ging zu ihm. Sie setzte sich neben ihm auf die Fersen. Er sah sie an, dann wieder aus dem Fenster, und schließlich sah er ihr ins Gesicht.
»Quartz hat mir ein wenig erzählt ...«
»Ich war wütend«, versuchte Wess zu erklären.
»Weil sich Barbaren aufführen wie — Barbaren, ist das noch kein Grund, mit mir böse zu sein.«
Er hatte recht, das wußte sie. Aber die Wut und Verwirrung, die sie noch immer fühlte, ließen sich nicht mit Worten beiseite wischen.
»Du weißt ...«, begann er, »du weißt, daß ich so nicht handeln könnte.«
Einen kurzen Augenblick lang versuchte sich Wess vorzustellen, daß Chan sich benähme wie der Wirt oder Bauchle Meyns, blind vor Sehnsucht, die eigenen Wünsche über alles andere stellend. Die Idee war so lächerlich, daß sie plötzlich laut herauslachte.
»Ich weiß, daß du das nicht könntest«, beruhigte sie ihn. Sie war nur böse auf den Menschen, der er hätte sein können, wäre sein Leben in anderen Bahnen verlaufen. Noch böser aber war sie auf den Menschen, der sie hätte sein können. Sie nahm Chan rasch in die Arme. »Chan, ich muß hier weg.« Sie nahm seine Hand und stand auf. »Komm, ich traf Lythande vergangene Nacht und habe einiges von ihr erfahren.«
Sie warteten nicht bis zum Abend, um zum Palast des Statthalters zu gehen, sondern brachen früher auf, in der Hoffnung, eine Audienz beim Prinzen bewilligt zu bekommen. Vielleicht ließe sich der Prinz überreden, Satan herauszugeben.
Offensichtlich hatte aber auch sonst niemand Lust gehabt, bis zum Abend zu warten. So schlossen sie sich der Menge an, die auf das große Tor zuströmte. Wess' Versuch, sich vorzudrängen, scheiterte an einem harten Ellenbogen, mit dem ihre verwundete Seite äußerst unsanft Bekanntschaft machte.
»Nicht drängeln, Mädchen«, schalt die zerlumpte Gestalt, der der Ellenbogen gehörte. Er schwang seinen Stock in ihre Richtung. »Willst du einen alten Krüppel umschmeißen? Ich könnte nicht mehr aufstehen, wenn ich erst auf dem Boden läge.«
»Vergebt, Bürger«, erwiderte sie. Weiter vorne sah sie, wie das Gedränge noch schlimmer wurde, die Leute mußten sich durch einen engen Durchgang zwängen. Sie bewegten sich mehr oder weniger in einer Reihe. »Geht Ihr zum Sklavenmarkt?«
»Sklavenmarkt? Sklavenmarkt! Heute findet keiner statt, Fremde. Die Schausteller kommen in die Stadt!«
»Was ist das?«
»Ein Zirkus! Hast du noch nie davon gehört? Na, mach dir nichts draus, die Hälfte der Leute hier kennt es auch nicht. Zweimal zwölf Jahre sind vergangen, seit der letzte hier war. Jetzt, wo der Prinz Statthalter ist, werden wir so etwas öfter sehen, zweifellos. Sie kommen, um sich über den Prinzen hier den Weg in die Hauptstadt zum Kaiser zu ebnen.«
»Aber jetzt weiß ich noch immer nicht, was ein Zirkus ist.«
Der alte Mann wies mit dem Finger.
Hinter der hohen Mauer, die den Hof des Statthalterpalastes umgab, sah man eine große Plane, die eben noch schlaff an einem Mast hing, sich ausbreiten — wie ein riesiger Pilz, dachte Wess. Halteseile spannten sich und formten aus dem Stoff ein gewaltiges Zelt.
»Dort drinnen, fremdes Kind, ist — Magie! Seltsame Tiere, springende Pferde, hübsche Mädchen mit Federn geschmückt, die auf ihren Rücken tanzen. Gaukler, Clowns, Tänzer auf Seilen, hoch in der Luft und — die Mißgeburten!« Er kicherte. »Die mag ich am liebsten. In dem letzten Zirkus, den ich sah, hatten sie ein Schaf mit zwei Köpfen und einen Mann mit zwei — aber das erzählt man keinem jungen Mädchen, es sei denn, man fickt sie gerade.« Er streckte seine Hand aus und wollte Wess kneifen. Wess zuckte zurück und zog ihr Messer. »Ruhig, Mädchen, nichts für ungut«, sagte der alte Mann
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