Die Rache Der Wache
vertreiben. Er saß Cappen Varra gegenüber, hatte jedoch keine Lust, sich zu unterhalten oder im Augenblick der Mittelpunkt von irgend etwas zu sein.
»Sie haben ihn geholt«, meldete der Küchenjunge an der Tür. Also war die Leiche jetzt weg. Dadurch würde es in der Gasse ein wenig ruhiger werden. Doch peinliche Fragen und Herumgeschnüffel mochten den Leichensammlern auf dem Fuße folgen.
»Entschuldige mich«, bat Cappen Varra, nicht weniger schweigsam als er, verließ den Tisch und ging zur Tür. Hanse fand sein Gleichgewicht wieder und stand in dem Strom der ins Freie Drängenden von seiner Bank auf.
Jemand berührte seinen Arm, ein federleichtes Tupfen. Er blickte zurück und erwartete Minsy, für die er wahrhaftig nicht in Stimmung war — und blickte statt dessen in Augen wie von einer Statue, so leer und vage, Augen im Gesicht eines alten/jungen und bartlosen Mannes, der blind war.
»Hanse, auch Nachtschatten genannt?« Die Stimme war glatt und eindringlich, sie paßte zu dem Mann.
»Was wollt Ihr von mir?«
»Ihr habt einen Freund verloren.«
»Ha. Keinen Freund, einen Bekannten. Was geht das Euch an — und mich?«
Die tastende Hand fand seinen Arm und führte ihn zu der anderen Hand, die nach seinen Fingern griff ... Hanse begann sich dieser gespenstischen Vertrautheit zu widersetzen, bis er den unverkennbaren Druck einer Münze spürte.
»Ich höre.«
»Mein Auftraggeber hat noch mehr für Euch.«
»Wo?«
»Nicht hier. Wollt Ihr den Namen hören? Kommt mit hinaus.«
Der Blinde hätte ihn unter den anderen zum Eingang geführt. Statt dessen zog Hanse ihn zu einer weiteren Tür, hinaus auf die hintere Gasse. Ein Weg, den nur wenige genommen hatten, und die wenigen waren inzwischen verschwunden. »Jetzt.« Hanse nahm den Blinden am Arm und drückte ihn an die Wand. »Wer?«
»Enas Yorl.«
Hanse ließ den Arm des Blinden fallen. »Er? Warum?«
»Er möchte mit Euch reden. Ihr wurdet - empfohlen. Und Ihr sollt bezahlt werden.«
Hanse hielt die Luft an und befingerte die Münze. Er betrachtete sie kurz, sah, daß sie frisch geprägt und aus schwerem Silber war, und überlegte, wer und wozu man ihn empfohlen hatte. Münzen dieses Wertes bekam man nicht so leicht ... Aber Enas Yorl, der Zauberer, empfing wenige Besucher ... Und in Freistatt stimmte in letzter Zeit so allerhand nicht. Dinge, die zu hoch für Hanse waren. Gerüchte, die sich ins Labyrinth verirrt hatten.
Sjekso tot, ohne eine Wunde, und Enas Yorl bot Geld, um mit einem Dieb zu sprechen. Die Welt war verrückt, aber er mußte sich nach ihr richten.
»Also gut«, brummte er, denn Enas Yorls Hand reichte weit, und es machte ihm Angst, nicht durchzublicken. »Führt mich.«
Der Blinde nahm seine Hand. Sie folgten der Gasse und verließen sie an ihrem Ende. Festen Schrittes ging der Mann, gar nicht wie ein Blinder, daß Hanse unwillkürlich an Täuschung dachte — deren sich viele Bettler bedienten — aber wenn, war es eine gute und der Mann regelrecht ein Künstler, und so etwas wußte Hanse zu schätzen.
Mradhon Vis' Sorge vertiefte sich, während er unter dem Balkon neben der Treppe mit dem schmiedeeisernen Geländer, das er in der Nacht gefunden hatte, hin und her stapfte. Es war ein Haus, so armselig und heruntergekommen wie alle im Labyrinth, aus altersglitschigem Stein und unbemaltem Holz. Es neigte sich der Gasse zu und war mit Balken gestützt. Das Alter hatte es gezeichnet.
Je länger er an diesem für sie so offensichtlich unpassenden Ort wartete, desto mehr quälte ihn der Gedanke, daß seine so sehr herbeigesehnte Auftraggeberin tot sein könnte — tot, ein Opfer wie Sjekso, und noch unentdeckt in irgendeiner Gasse. Es war Irrsinn von ihm gewesen, eine Dame in den Gassen des Labyrinths alleinzulassen, eine Katze unter Hunden. Jemand mit soviel Geld wie sie hatte Freunde und Feinde. Die Geschichten, die er sich ausmalte, wurden immer schlimmer. Er dachte an Fürsten und an Politik, an heimliche Zusammenkünfte. Dieser Sjekso war vielleicht mehr gewesen, als er zu sein geschienen hatte. Und die Dame hatte mit Geld um sich geworfen, um sich eines Zeugen zu entledigen, gegen den ihr Begleiter nicht aufkam. Eine reine Notwendigkeit ...
Immer weiter schweifte seine Phantasie. Er stiefelte herum, stapfte ein paar Stufen der knarrenden Holztreppe hoch, kehrte unentschlossen um, stieg wieder hoch, wappnete sich, erreichte den schwankenden Balkon und griff nach der Türklinke.
Widerstandslos ließ sich die Tür öffnen.
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