Die Rache Der Wache
diese süß-traurige Wärme körperlichen Verlangens — wie sie sie in jedem schwachen Moment verspürte, seit sie den falschen Zauberer beraubt und hatte leben lassen. Am Morgen würde sie unter Gewissensbissen leiden, unter einem verworrenen Bedauern, das bei den Gutaussehenden immer zurückblieb, das Gefühl, Schönheit vergeudet zu haben. Aber im Augenblick war sie keiner Vernunft zugängig. Und es hatte auch schon so viele gegeben.
Immer noch hielt Hanse das Messer in der Hand, ohne es zu fühlen, dann hörte er wie aus weiter Ferne den Aufprall, nachdem es seinen Fingern entglitten war. Er spürte keine Schmerzen mehr, nur die Wärme der Nähe dieser Frau, deren dunkle Augen ihn betrachteten und deren Parfüm ihn einhüllte. Das Amulett an seiner Kehle war das einzige, was ihm noch Unbehagen bereitete. Sie legte die Arme um seinen Hals, ihre Finger fanden die Kette. »Das stört dich nur«, murmelte sie und hob sie über seinen Kopf. Er hörte sie fallen, ganz weit entfernt. Er verschwendete keinen Gedanken an sie, nur eines bewegte ihn: das Verlangen nach dieser Frau. Trotzdem beschlich ihn kurz ein anderer Gedanke: daß Sjekso diesen Weg genommen hatte, ehe er tot und kalt vor dem Einhorn gefunden worden war. Aber er beunruhigte ihn nicht. Er spürte ihre Lippen auf den seinen, und ihr Götter, wie sehr er sie begehrte!
Der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken, ein Windstoß drang herein, gemischt mit süßem Räucherduft ...
»Verzeiht«, bat Enas Yorl. Das Paar, das gerade dabei war, sich körperlich näher zu kommen, zuckte auseinander. Die Frau starrte ihn mit großen Augen an; Hanse mit benommener Verzweiflung. Die Seidenvorhänge bauschten sich noch in dem Lufzug, den Enas Yorl verursacht hatte.
»Wer seid Ihr?« fragte Ischade. Enas Yorl spürte den kurzen Versuch, eine Verteidigung herauszufordern. Ischades Miene verriet leicht besorgte Wachsamkeit.
»Laßt ihn gehen.« Enas Yorl deutete auf Nachtschatten. »Er ist bewundernswert verschwiegen. Und ich würde es als Gefallen betrachten. Geh, Nachtschatten. Jetzt! Schnell!«
Hanse wich zur Tür zurück, zögerte dort mit verwirrtem Blick.
»Hinaus!« befahl Enas Yorl.
Der Dieb wirbelte herum, riß die Tür auf. Ein frischer Windstoß schlug ihm entgegen.
Er floh.
Im Laufschritt erreichte Hanse die Treppe, verringerte seine Geschwindigkeit kaum, als er die Stufen hinunterstolperte, sah die Gestalt nicht, die sich unten erhob, bis er geradewegs auf den Dolch zusauste, der auf seinen Bauch gerichtet war.
Er schlug die Klinge zur Seite, griff nach Armen oder Kleidung, was immer er packen konnte, spürte den Schock des Zusammenpralls, stürzte mit dem Angreifer und der Klinge und verlor ihn aus seinem Griff, als er mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. Es gelang ihm gerade noch, die herabstoßende Hand mit dem Dolch zu fassen, er sah Mradhon Vis' Gesicht und spürte dessen Körper, der um ein Drittel schwerer war als sein eigener. Mit der Linken hatte er die herabsausende Hand abgefangen, der Linken, seiner Messerhand. Seine schmerzenden Muskeln zitterten unter der Anstrengung, als er völlig ungewohnt mit der Rechten das Messer in seiner Beinscheide erreichen wollte. Sein linker Arm gab nach.
Plötzlich verlagerte sich Vis' Gewicht nach rechts, er preßte sich auf ihn, drückte seinen anderen Arm hinunter - nicht weiter schwierig, schlaff wie er war. In dem kurzen Moment, da ein Grinsen Vis' Gesicht überzog, stand, wie unwahrscheinlich, Cappen Varra mit einer schweren Faßdaube in jeder Hand über ihm.
»Brauchst du Hilfe?« erkundigte sich der Minnesänger höflich. »Oder ist das Ganze nur ein neues Spiel?«
Hanse fluchte, trat mit den Füßen, wand sich unter dem nun regungslosen Vis hervor und griff erschrocken nach seinem Messer. Cappen hielt seinen Arm zurück. Hanses Wut kühlte ab, und er fühlte sich nur noch übel. »Verdammt«, fluchte er. »Hättest du nicht ein wenig leichter zuschlagen und mir eine Chance geben können?«
Da wurde ihm bewußt, daß Licht auf sie herabfiel, aus der Tür, hinter der zwei Zauberer zusammengefunden hatten. »Ihr Götter«, murmelte er, rappelte sich hoch, faßte Cappen am Arm — und rannte um sein Leben.
»Nicht, ich bin es.«
»Nein?« Enas Yorl spürte, wie seine Schultern eine Spur breiter wurden, seine Züge sich veränderten, aber in seinem Stolz gestattete er sich nicht, auf seine Hände zu blicken, um sich zu vergewissern. Vielleicht war seine neue Gestalt gar nicht so
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