Die Rache des Samurai
Ungnade gefallen, hatte Schande auf sich geladen, körperlichen und seelischen Schmerz erlitten, einen verwirrenden Mordfall gelöst, dem Shōgun das Leben gerettet – und war schließlich zu Tokugawa Tsunayoshis sōsakan ernannt worden: zum höchst ehrenwerten Ermittler von Ereignissen, Gegebenheiten und Personen.
Diese Ernennung war eine Auszeichnung, die Sano sich niemals hätte träumen lassen. Die damit verbundene Übersiedlung in den Palast hatte in seinem Leben große Umwälzungen mit sich gebracht. Abgeschnitten von allem und jedem, den er kannte, war es Sano vorgekommen, als würde er eine unbekannte Landschaft durchstreifen, die von fremden Gesichtern erfüllt war; eine Landschaft, in der neue, verwirrende Vorschriften und Einschränkungen galten und in der unbekannte Rituale gefeiert wurden. Der Teich auf dem Übungsgelände war nicht der einzige Ort, an dem Sano zu kämpfen hatte, um sich über Wasser zu halten. Doch die Veränderungen in seinem Leben hatten sich nicht auf den Umzug in den Palast beschränkt. Nur fünfzehn Tage, nachdem Sano das elterliche Haus verlassen hatte, war sein Vater gestorben, dem es seit vielen Jahren gesundheitlich schlechtgegangen war. Die Erinnerung an den Tod des Vaters war frisch, und der Schmerz und die Trauer noch längst nicht überwunden.
Sano hatte vor dem Bett des sterbenden alten Mannes gekniet und dessen welke Hand an seine Brust gedrückt. Der Kummer schnürte ihm die Kehle zu, als er versucht hatte, der Liebe und Achtung Ausdruck zu verleihen, die er für den Vater empfand, doch der alte Mann hatte nur Schweigen gebietend den Kopf geschüttelt. »Mein Sohn … versprich …« Die brüchige Stimme sank zu einem Flüstern herab, und Sano beugte sich näher an die trockenen Lippen, um die Worte verstehen zu können. »Versprich mir, daß du … deinem Herrn tapfer dienen wirst. Sei die lebendige Verkörperung … des bushidō … «
Bushidō : der Weg des Kriegers. Der strenge Pflicht-, Gehorsams- und Ehrenkodex, der das Verhalten eines Samurai in der Schlacht wie auch im Frieden bestimmte und sein ganzes Leben beherrschte; denn ein Samurai mußte sich immer und überall den zahllosen Herausforderungen stellen, die der bushidō ihm auferlegte.
»Ja, Vater, ich verspreche es«, sagte Sano und schwor sich, stets zu versuchen, seinen unabhängigen, nach Freiheit strebenden Geist mit den Regeln des bushidō in Einklang zu bringen, egal was es ihn kosten mochte. Dieses Versprechen am Totenbett war die größte Verpflichtung gewesen, die Sano seinem Vater gegenüber jemals eingegangen war, und er mußte sie einhalten. »Bitte, ruhe dich jetzt aus.«
Wieder schüttelte sein Vater den Kopf und fuhr fort: »Das höchste Ziel eines Samurai … besteht darin … große Taten zu vollbringen, die seinen Mut, seine Treue und seine Ergebenheit beweisen und die …«, er verstummte und tat einige langsame, qualvolle Atemzüge, »… die seine Freunde und Feinde gleichermaßen in Erstaunen versetzen … Taten, die dafür sorgen, daß der Samurai nach seinem Tod von seinem Herrn betrauert wird und …« Ein Hustenanfall ließ den alten Mann erneut verstummen.
»Und die ihm einen großen Namen verschaffen, an den zukünftige Generationen sich erinnern«, vollendete Sano an seines Vaters Stelle. Es war einer der vielen Lehrsätze des bushidō , den Sano schon in der Kindheit gelernt hatte; sein Vater hatte ihn nach diesen Grundsätzen, die sich im Laufe von sechshundert Jahren herausgebildet hatten, unterrichtet und erzogen.
»Versprich mir …«
Sano packte die Hand des Vaters fester, als wollte er ihn den Klauen des Todes entreißen. Tränen brannten ihm in den Augen. Er wußte, daß es den Vater mit Kummer erfüllte, daß die große Tat, die Sano für den Shōgun vollbracht hatte, für immer ein Geheimnis bleiben mußte. »Ich verspreche dir, Vater, daß ich dem Namen unserer Familie einen Ehrenplatz in der Geschichte sichern werde«, sagte er.
Zufrieden entspannte sich der alte Mann und schloß die Augen. Kurz darauf versank er in seinen letzten, ewigen Schlaf.
Es kam Sano vor, als hätte der Tod des Vaters ihn der wichtigsten Stützen seines Lebens beraubt: der Bindung zu seinem Erbe – jenem Quell, aus dem sein Mut und seine Kraft geströmt waren – und dem inneren Kompaß, der ihn geleitet hatte. Unsicher und auf sich allein gestellt, sehnte er oft den Rat des Vaters herbei. Dennoch war ihm sein Versprechen damals weder unbesonnen noch übertrieben erschienen: Als
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