Die Rache des Samurai
zusammenhing? Doch es war nicht an Aoi, die Beweggründe ihres Vorgesetzten in Frage zu stellen oder sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was mit seinen unglücklichen Opfern geschah. Denn würde sie das tun, würde ihre Arbeit noch unerträglicher für sie; das hatten fünfzehn lange Jahre sie gelehrt.
Aoi hatte ihren Dienst im Palast als Küchenmagd begonnen – mit dem Auftrag, die anderen Mägde und Diener zu bespitzeln. Sie war krank vor Heimweh gewesen, und nie hatte sie aufrichtige Freundschaften schließen können; denn stets stand eine unüberwindliche Mauer zwischen ihr und jenen Menschen, mit denen sie sich nur deshalb anfreunden sollte, um ihre Geheimnisse zu ergründen. Abends lag Aoi wach im Bett, bis die Hausmädchen schliefen, mit denen sie das Zimmer teilte; sobald Stille herrschte, huschte sie lautlos davon und über die leeren, vom Mondlicht beschienenen Höfe und die steinernen Gänge zum Momijiyama.
»Ah, Aoi.« Die Stimme der alten Michiko knackte und knisterte wie ein Holzfeuer in der großen, schattigen Eingangshalle des Mausoleums. Verhutzelt und vom Alter gebeugt, doch mit strahlenden, jugendlichen Augen, war auch Michiko eine kunoichi aus Aois Heimatdorf. Seit Tokugawa Ieyasu den Palast von Edo hatte errichten lassen, war Michiko die oberste Tempelwächterin und die Befehlshaberin des Palast-Geheimdienstes der Frauen. »Was hast du mir heute zu erzählen?«
»Die Nachtwächter haben vor, Reis aus dem Lagerhaus des Shōgun zu stehlen«, sagte Aoi. Und sie berichtete über jedes andere Vergehen, das sie entdeckt hatte.
Und jedesmal erwiderte Michiko das gleiche: »Sehr gut, Kind. Dein Vater wäre stolz auf dich.«
Jetzt, fünfzehn Jahre später, traten Aoi beim Gedanken an ihren Vater noch immer Tränen in die Augen. Vielleicht hätte er die Zerstörungen hingenommen, die seine Tochter bewirkt hatte, doch gutgeheißen hätte er sie niemals. Die Frauen und Männer, die Aoi verriet, wurden der kleinsten Vergehen gegen die Regierung wegen ausgepeitscht oder sogar hingerichtet. Wie schon des öfteren zuvor, spielte Aoi auch diesmal mit dem Gedanken, mit Absicht bei der Aufgabe zu versagen, die nun vor ihr lag, um das Opfer zu verschonen. Der Tod würde ihr die ersehnte Erleichterung bringen. Doch ein Versagen war unehrenhaft … unmöglich … undenkbar.
Aufmerksam lauschte Aoi den Anweisungen Yanagisawas.
Wieder ging der Kammerherr auf und ab; seine Schritte wurden schneller, und die kaum spürbaren Turbulenzen der Luft um seinen Körper nahmen zu. »Ihr werdet mich über Sanos Fortschritte auf dem laufenden halten. Doch was noch wichtiger ist – Ihr müßt ihn mit Euren vorgetäuschten Botschaften aus dem Reich der Geister auf eine falsche Fährte führen. Gebraucht Eure Intelligenz, um seine Achtung zu gewinnen, und benützt seine Einsamkeit, sich seines Vertrauens und seiner Zuneigung zu versichern.«
Ryakuhon no jitsu : die Kunst der Ninja, das Vertrauen eines Feindes zu erlangen, indem man vorgab, ein Freund und Kamerad zu sein. In den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts im Palast zu Edo hatte Aoi diese Kunst zur Vollendung gebracht, während sie vom Küchenmädchen bis zur Wächterin der Ehefrauen der höchsten Beamten des Shōgun aufgestiegen war. Ihr freundliches Auftreten, ihre Kenntnisse der Heilkunst und ihre Fähigkeiten als Masseuse hatten ihr allgemeine Beliebtheit verschafft. Statt der belanglosen kleinen Gaunereien der Dienerschaft erzählte sie Michiko nun Geschichten über die Verrücktheiten und Ausschweifungen, den Ehebruch und die Perversionen auf den höchsten Ebenen des bakufu . Binnen kurzer Zeit wurde Aois Kummer von Resignation verdrängt; das Heimweh ließ nach und wurde zu einem bleibenden, aber erträglichen Schmerz. Aoi fand eine gewisse Erfüllung darin, ihre Talente auszuspielen. Wie ihre weiblichen Ahnen genoß sie Freiheiten und einen Bewegungsspielraum, die viel größer waren als der gewöhnlicher Frauen – und sei es auch nur, um die Befehle ihres Herrn zu erfüllen. Sie lebte von einem Tag auf den anderen und konzentrierte sich allein auf die jeweils zu lösende Aufgabe, ohne an ihre Zukunft zu denken.
Genauso, wie sie es jetzt wieder tun mußte. Sie würde Sano nur so weit helfen, daß er von der Lauterkeit ihrer Absichten überzeugt war und zu der Ansicht gelangte, daß ihre Ratschläge es wert waren, befolgt zu werden. Dann würde sie sein Vertrauen mißbrauchen, ihn vernichten und nie wieder an ihn denken.
»Mir ist da noch eine Idee
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