Die Rache des Samurai
die Stimme Yanagisawas Aoi aus ihren Erinnerungen. »Nun denn, kunoichi «, sagte er. »Habt Ihr Eure Befehle verstanden?«
Aoi nickte resigniert. Seit sie ihren Geliebten in den Tod getrieben und sich selbst das Herz gebrochen hatte, waren sechs lange Jahre vergangen. Sie war kein dummes junges Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau und eine Könnerin in ihrem Beruf, die wußte, wie man Abstand zu den Dingen wahrte. Sie brauchte keine intimere Beziehung zu Sano einzugehen; sonst würde sie vielleicht noch mehr Schmerzen ertragen müssen. Nein, sie würde seine Arbeit so gründlich sabotieren, daß seine vollständige Vernichtung gar nicht mehr erforderlich war. Sie würde Yanagisawa zufriedenstellen, ohne ihren Sünden einen weiteren Mord hinzuzufügen.
Beide wandten sich dem Fenster zu, als sie draußen eine Bewegung wahrnahmen. Über den Dächern des Palasts, den gebogenen steinernen Mauern, den schimmernden Wassergräben und den grünen Gärten stieg ein Falke empor und kreiste am Himmel. Während Yanagisawa und Aoi ihn beobachteten, stürzte er pfeilschnell in die Tiefe und packte einen kleinen Vogel. Blut spritzte; ein schmerzerfülltes Kreischen erklang, und der Jäger und seine Beute verschwanden aus dem Blickfeld. Aoi schrie innerlich auf.
Für einen Augenblick betrachtete Yanagisawa den leeren Himmel. Die Stimmen und Schritte der patrouillierenden Wachen stiegen bis in die Spitze des Turmes empor und füllten die Stille aus. Schließlich sagte der Kammerherr: »Werdet Ihr die finsteren Mächte gegen Sano einsetzen?«
Aoi spürte eine plötzliche Kälte in der Aura aus Gefühlen und Regungen, die Yanagisawa umgab. Sein gelassenes Auftreten konnte die Furcht vor Aoi nicht verbergen. Die geheimnisvollen ›finsteren Mächte‹ waren nichts weiter als eine Verbindung aus gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit, geschärften Sinnesempfindungen und einem umfassenden Wissen über den menschlichen Geist und Körper. Es waren wunderbare Werkzeuge, die kein Samurai zu begreifen vermochte; doch als übernatürlich konnte man sie schwerlich bezeichnen.
Doch Yanagisawa wußte, daß Aoi imstande war, ihn blitzschnell zu töten – mit einem Giftpfeil oder einem Messer, das sie am Körper verbarg, oder auch nur mit einem wuchtigen Schlag mit der bloßen Hand –, bevor er sich verteidigen oder auch nur Hilfe herbeirufen konnte. Bislang hatte Aoi noch keinen Menschen eigenhändig töten müssen – ein Meuchelmord war die letzte, gefürchtete Zuflucht, falls bei der Erfüllung eines Auftrags alle anderen Mittel versagten. Doch Yanagisawa – oh, ihn würde Aoi mit Freuden töten, und sei es nur der Todesdrohung wegen, mit der dieser Mann sie und ihre Familie in seiner Gewalt hielt.
Aoi schaute Yanagisawa fest in die Augen und erkannte, daß auch er es wußte. Sein Lächeln schwand. Die Waage der Macht schlug mit einemmal zu Aois Gunsten aus – doch nur vorübergehend. Aoi senkte den Blick und verbeugte sich.
»Ich werde alle Mittel anwenden, die erforderlich sind, um Eure Ziele zu erreichen, ehrenwerter Kammerherr.«
5
S
ano ritt durch ein Labyrinth aus schmalen Straßen, die immer ärmlicher und schmutziger wurden, je näher er dem Gefängnis von Edo kam, in dem nicht nur Verbrecher untergebracht waren, die auf ihre Gerichtsverhandlung warteten, sondern auch die Leichenhalle, in der die Körper jener Menschen lagen, die ihr Leben durch Naturkatastrophen verloren hatten oder eines unnatürlichen Todes gestorben waren.
In dieser Gegend hob das Sonnenlicht des Frühlings die Zeichen der Armut noch deutlicher hervor: halb verfallene Häuser mit notdürftig geflickten Dächern; die Küchen befanden sich im Freien, und abgemagerte Kinder starrten Sano mit hungrigen Augen an. Das warme Wetter machte den Geruch nach Müll, Schmutz, Abwässern und schlechtem Essen noch schlimmer, als er ohnehin schon war.
Eine baufällige Holzbrücke führte Sano über den trüben, stinkenden Kanal, der das Gefängnis von Edo wie ein Wassergraben umgab. Vor Sano ragte die bedrohliche, düstere und massige Gestalt des Gebäudes mit seine hohen Steinmauern, den vielen Wachtürmen und dem gewaltigen, eisenverstärkten Tor auf. Als Sano ans Ende der Brücke gelangte, kamen zwei Posten aus dem Wachhaus, verbeugten sich und zogen die schweren Holzbalken zurück, mit denen das Tor verriegelt war.
»Kommt gleich hindurch, sōsakan-sama «, sagten die Posten im Chor. Zwei Monate häufiger Besuche Sanos hatte es bei den Männern zur
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