Die Rache des schönen Geschlechts
Supermarkt hätte er sich nehmen können, was er wollte, aber er hat immer gesagt, wenn er etwas brauchte, und dafür gezahlt. Er war ein ehrlicher Junge.«
Das Haus, in dem Dindos Vater lebte, lag nah beim Hafen. Ein winziges Häuschen und so baufällig, dass es unbegreiflich war, wie es ohne Stützbalken noch aufrecht stehen konnte. Im Erdgeschoss hatte sich früher ein Lagerraum befunden, der jetzt verschlossen war, ein Brett war über die Tür genagelt. Gegenüber der Haustür führte eine ebenfalls geschlossene Tür in einen Hohlraum unter der Treppe. Im ersten und einzigen Stock wohnte Antonio Trupia. Montalbano klopfte. Es öffnete ein gebrechlicher alter Mann, zahnlos und gebeugt und noch hinfälliger als das Haus.
»Ich bin Commissario Montalbano. Sind Sie der Großvater von Salvatore Trupia genannt Dindo?«
»Der Großvater? Ich bin sein Vater.«
Himmel! In welchem Alter hatte er Dindo gezeugt? Der Alte musste verstanden haben.
»Ich hab meinen Sohn Dindo sehr spät gekriegt. Und vielleicht ist er deshalb so geboren, so krank im Kopf.«
Er bat ihn in ein Zimmer, das ein wahrer Saustall war, und bot ihm einen wackligen Stuhl an.
»Sie müssen entschuldigen, cummissariu, dass ich Sie so empfange. Aber ich bin krank und verwitwet, lebe von der Mindestrente und hab niemand zum Helfen.«
»Ich wollte mit Ihnen über Dindo reden.«
»Was wollen Sie denn wissen, cummissariu miu? Ich weiß nur, dass sie ihn mir umgebracht haben. Aber die Geschichte von uns Armen machen nicht wir, die machen die, die in den Zeitungen schreiben.«
Eigentlich, dachte der Commissario, hatte er vollkommen Recht: Immer mehr mutierten Journalisten über Nacht zu Historikern.
»Warum wollte er nicht mehr bei Ihnen leben? Hatten Sie sich gestritten?«
»Ach woher denn! Mit Dindo konnte man nicht streiten! Kann man mit einem Kind denn streiten? Nein, vor vier Jahren, wie er mit der Arbeit im Supermarkt angefangen hat, hat er gesagt, dass er allein wohnen will. Da hab ich ihm den Schlüssel für die Kammer unter der Treppe gegeben, die gehört auch mir.« »Haben Sie ihn oft gesehen?«
»Nein. Aber wenn Sie das meinen - in den letzten zwei Monaten war er verändert.«
»Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie ihn nicht gesehen haben?«
»Weil ich ihn gehört hab. Seit zwei Monaten hat er gesungen.«
»Er hat gesungen?«
»Ja. Aus vollem Hals. Morgens, wenn er aufwachte, und abends, wenn er heimkam.«
»Und vorher hat er nicht gesungen?«
»Nie.«
»Ich würde mir sein Zimmer gern mal ansehen.«
»Nehmen Sie den Schlüssel mit.«
»Den bring ich Ihnen nachher wieder.«
»Nicht nötig. Lassen Sie ihn stecken. Es kommt eh niemand.«
»Darf ich Sie was fragen? Warum wurde er Dindo genannt?«
»Er hat die Glocken so gern gehört. Wenn sie läuteten, hat er mit dem Kopf din don gemacht.«
Der Winkel unter der Treppe war ein etwa drei mal drei Meter großes Kabuff mit schräger Decke, in das durch ein dreißig mal dreißig Zentimeter kleines Gitterfenster Luft, aber kein Licht gelangte. Das Mobiliar bestand aus einem verrosteten Bettgestell, darauf eine Matratze, eine zerlöcherte Decke und ein Kissen ohne Bezug, einem winzigen Tischchen, einem Stuhl. Ein paar Kartons dienten als Schrank. In einer Art Ausbuchtung gab es eine Kloschüssel und ein Waschbecken mit einem rinnenden Wasserhahn. Ein Schweinestall, hatte Signor Aguglia gesagt. Nein, das hier war schlimmer, es war eine Art verlassene Gefängniszelle in einem Land der Dritten Welt. Dreckige Socken, Unterhosen, Unterhemden, einzelne Zeitungsseiten, Comics, Mickymaus-Heftchen lagen überall auf dem Boden verstreut. Dem Commissario zog es das Herz zusammen, und am liebsten hatte er die Tür wieder zugemacht und wäre gegangen. Aber wie so manches Mal weigerte sein Körper sich zu gehorchen. Also räumte Montalbano den Stuhl frei und setzte sich hin. Wie kam es, dass in diese versiffte Zelle das Glück eingezogen war, eine solche Freude, dass Dindo, der damit nie was am Hut gehabt hatte, eines schönen Tages lauthals zu singen begann und nicht mehr aufhörte, bis er erschossen wurde? Bis er tödlich verwundet wurde wie ein Vogel, den ein Jäger im Flug traf? Wieder kam ihm dieser Romantitel in den Sinn. Man konnte in dem Zimmerchen nichts mehr sehen, Montalbano hätte aufstehen und die Glühbirne anschalten müssen, die von der Decke hing, aber er hatte keine Lust dazu. Er wollte noch ein wenig im Dunkeln in dem Mief sitzen und versuchen, diesem Mief die richtigen
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