Die Rache des Stalkers
Visitenkarte geben.«
»Was?« Anjas Versuch, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen, misslang völlig.
»Vermutlich wollte er mich beeindrucken«, sagte Michaela schmunzelnd. »Er ist nämlich Redakteur der Kooltur .« Sie stand auf und trat an einen Schreibtisch. Nach kurzem Suchen hatte sie die Karte gefunden, die sie der Kommissarin reichte.
Im oberen Drittel prangte der Schriftzug der Zeitschrift, die sich Kooltur nannte und seit etwa einem halben Jahr auf dem Markt war. Die Macher hatten ein Lifestylemagazin aus dem Boden gestampft, das den Nerv der Zeit traf. Inhaltlich bestand es aus einer Mischung von Kino-, Buch-, Computergames- und Musikbesprechungen, dazu Modetipps, Veranstaltungshinweise und Kontaktanzeigen. In jeder Ausgabe waren attraktive Männer und Frauen abgebildet, die sich spärlich bekleidet in Pose warfen. Bei ihnen handelte es sich angeblich um die heißesten Singles der Stadt, einige hatten inzwischen Einladungen zu Castings für verschiedene TV-Formate erhalten. Promotet wurde die Printversion von einem sehr gelungenen Onlineauftritt und einem eigenen YouTube-Kanal, der die Inhalte und vor allem die Singles ausführlicher präsentierte. Um im Internet Zugriff auf alles zu haben, benötigte man Codes, die in der Zeitung abgedruckt waren.
Aufgrund des überwältigenden Erfolgs der Kooltur gab es Überlegungen, dieses Format auch in anderen Städten der Republik auszuprobieren.
Unter dem Schriftzug waren etwa zwei Zeilen freigelassen, ehe in dunkelblauer Farbe der Name des Mannes zu lesen war: Marcel Kowitz.
Darunter stand ›Redakteur Bereich Lifestyle‹ und anschließend – wesentlich kleiner – die Redaktionsadresse. Anja registrierte misstrauisch das Fehlen einer Telefonnummer.
»Wieso glauben Sie, dass er Sie mit dieser Visitenkarte beeindrucken wollte?«
»Wenn ich in einer Kneipe von einem Typen angesprochen werde, der mir innerhalb kürzester Zeit seine Karte unter die Nase hält, welcher Gedanke liegt dann nahe? Wahrscheinlich versucht er so, junge Mädchen aufzureißen.«
»Hat er es denn bei Ihnen probiert?«
»Natürlich. Sie hätten ihn sülzen hören müssen, wie hübsch ich sei, und dass die Kooltur gerade neue Gesichter suche. Naja. Mit solchen Sprüchen kann man mir nicht imponieren. Ich stände lieber hinter der Kamera. Nach einer halben Stunde Quatschen und zwei Drinks wurde er richtig aufdringlich. Da habe ich ihn abblitzen lassen.«
»Warum haben Sie die Visitenkarte behalten?«, fragte Anja.
»Letztlich weiß man nie, wofür solche Kontakte gut sind. Falls sich mein Studium nicht wie gewünscht entwickelt, wäre eine Anstellung bei der Kooltur nicht die schlechteste Übergangslösung.«
Ehe Anja die wertvolle Zeugin verließ, bat sie darum, die Karte mitnehmen zu dürfen.
Auf dem Weg ins Präsidium besorgte sie sich die neueste Ausgabe des Magazins und blätterte sie in ihrem Büro schnell durch. Sie fand keinen Artikel, der Kowitz’ Namen trug. Aus dem Impressum notierte sie sich insgesamt vier Rufnummern, doch bei deren Anwahl erfuhr sie, dass die Büros nicht mehr besetzt und sie morgen früh ab neun Uhr zu erreichen seien. Im Telefonbuch existierte weder ein Marcel Kowitz noch ein Teilnehmer mit der Abkürzung M. Kowitz. Eine Erkenntnis, die sie in ihrer Annahme bestärkte, dass die Identität erfunden war. Aber bevor sie nicht am nächsten Tag bei der Kooltur mit jemandem gesprochen hatte, wollte sie keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Gerade, als Anja ihren Computer hochfuhr, betrat Nadine das Büro. Sie tauschten sich über den neuesten Informationsstand aus und stimmten darin überein, dass Angela ein perfektes Opfer für jemanden gewesen wäre, der ihr Ruhm versprochen hätte. Da Nadine mit ihrem Verlobten auf einer Vernissage eingeladen war, verabschiedete sie sich rasch, während Anja noch eine Abfrage nach ›Marcel Kowitz‹ durchführen wollte. Falls es ihn gab, bestand die Möglichkeit, dass er in seiner Vergangenheit aktenkundig geworden war. Beim Starten des Programmes musste sie allerdings feststellen, dass die Datenbank wegen Wartungsarbeiten nicht verfügbar war. Anja interpretierte dies als Wink, ihren Arbeitstag zu beenden.
Bei ihrer Rückkehr nach Hause entdeckte sie einen großen Strauß langstieliger Rosen vor der Wohnungstür. Eine zwischen den Blüten platzierte Karte brachte ihr die Gewissheit, keinen neuen Verehrer zu haben.
Der gestrige Abend tut mir so leid , hatte er in seiner besten Sonntagsschrift vermerkt.
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