Die Rache des stolzen Griechen
Als sie am nächsten Morgen aufstand, war sie mit ihren Gedanken immer noch bei Lazar. Auch den ganzen Tag über ging er ihr nicht aus dem Sinn. Wieder rief sie sich seine Frage ins Gedächtnis zurück, warum sie solche Angst vor Männern hatte. ‚Es ist für uns beide wichtig‘, hatte er gesagt. Hatte er damit gemeint, dass er seine Rache nicht an ihr vollziehen konnte, wenn ihre Ängste tiefer saßen? Oder hatte er es wissen wollen, weil es ihm für ihr zukünftiges gemeinsames Glück wichtig erschien? Clare fand den Gedanken etwas vermessen, aber im Grunde waren das alles ohnehin nur Wunschträume.
Auch in der folgenden Nacht fand sie kaum Ruhe. Immer wieder musste sie an die Abschiedsszene auf dem Flughafen in Thessaloniki denken. ‚Hérete, karthia mou‘ , hatte er voller Emotionen zu ihr gesagt. Niemals würde sie diese Worte vergessen, auch wenn sie nicht wusste, was sie bedeuteten. Warum hatte sie sich nur so hastig von ihm befreit, als hätte er sie mit seiner Umarmung zu Tode erschreckt?
Am nächsten Morgen überraschte ihre Mutter sie mit dem Vorschlag, die Hausarbeit zu vergessen und stattdessen zum Einkaufen zu fahren. „Schicken wir die Männer zur Arbeit, und verbringen wir den Vormittag in Guildford“, sagte Ruth Harper vergnügt.
Clare hatte nichts dagegen einzuwenden. Kaum hatten sie das Frühstücksgeschirr abgespült, saßen sie auch schon im Mini und fuhren in die Stadt.
Während der Fahrt plauderte Ruth von dem neuen Kleid, das Clare als Weihnachtsgeschenk bekommen sollte und über das sie bereits gesprochen hatten. Jetzt war eine günstige Gelegenheit, es zu besorgen.
„Aber anziehen darfst du es erst am Weihnachtsfeiertag“, betonte Ruth Harper mit einem Zwinkern, als sie vor dem Shopping-Center in Guildford standen und nicht wussten, in welche Boutique sie zuerst gehen sollten.
Clare fand bald ein Kleid, das ihr sehr gut gefiel. Auch ihre Mutter nickte zustimmend. Es war figurbetont, aus weich fließendem Stoff und das genaue Gegenteil von den „Sackkleidern“, die sie sonst immer trug. Das warme Weinrot stand ihr gut zu ihrem hellblonden Haar.
„Probier es an“, forderte Ruth Harper ihre Tochter auf.
Clare verschwand in der Umkleidekabine. Als sie herauskam, lächelte ihre Mutter anerkennend. „Sehr hübsch. Es ist wie für dich gemacht.“
Clare drehte sich vor dem Spiegel. Sie sah richtig elegant aus in dem schicken Kleid. Unwillkürlich wünschte sie, Lazar könnte sie so sehen. Dann würde er sicher nicht mehr denken, dass sie sich ihres Körpers schämte. Ach, Lazar …
Beim Verlassen der Boutique trafen sie Chloe Rattenbury, eine von Ruths Freundinnen. Die beiden Frauen freuten sich, sich zu sehen, und beschlossen spontan, eine Tasse Kaffe trinken zu gehen. Natürlich war auch Clare dazu eingeladen, doch sie wollte die Zeit lieber nutzen, um ihrer Mutter ein kleines Weihnachtsgeschenk zu kaufen.
„Kann sein, dass es bei mir ein wenig länger dauert“, meinte Clare. „Wir treffen uns dann später am Auto.“
Ruth wollte etwas einwenden, doch Chloe hatte sie schon mit sich gezogen. Während sie mit dem Fahrstuhl zur Cafeteria des Shopping-Centers hinauffuhren, ging Clare die Straße entlang. Das Weihnachtsgeschenk für ihre Mutter war im Moment nur zweitrangig. Die Stadtbibliothek lag ganz in der Nähe, und genau das war ihr Ziel. Clare rannte beinahe dorthin. Sie musste unbedingt herausfinden, was die Worte bedeuteten, die Lazar auf Griechisch zu ihr gesagt hatte.
Wenige Minuten später saß sie an einem der Lesetische in der Stadtbibliothek und hatte sämtliche griechischen Wörterbücher und andere Nachschlagewerke, die im Regal gestanden hatten, vor sich liegen. Es war kein leichtes Unterfangen, da sie zwar den Klang der Worte im Ohr hatte, aber nicht wusste, wie sie geschrieben wurden. Doch sie würde nicht aufgeben, bis sie deren Bedeutung herausgefunden hatte, auch wenn sie eine große Enttäuschung erleben müsste.
Clare hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, bis sie ‚Hérete, karthía mou ‘ endlich ins Englische übersetzt hatte. Mehrmals machte sie die Probe, weil sie es einfach nicht glauben konnte. Doch es bestand kein Zweifel. Die drei Worte hießen: Leb wohl, mein Herz .
9. KAPITEL
„Leb wohl, mein Herz“, flüsterte Clare vor sich hin. Selbst wenn noch andere Leute mit am Tisch gesessen hätten, wäre es ihr nicht bewusst gewesen. Sie sah nur diese drei Worte. Was hatte Lazar damit sagen wollen? Dass er sie nicht nur deswegen
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