Die Räder des Lebens
Eins
Paolina
Die Boote im Hafen von Praia Nova hatten an Land gelegen, als die große Flut vor zwei Jahren über sie hereingebrochen war. Die Männer im Dorf hielten das für einen Segen, denn dieser Zufall hatte ihnen das Leben gerettet. Die Frauen hielten es aus demselben Grund für einen Fluch. A Muralha blieb so still und unerbittlich wie jeher, ein gigantisches Bollwerk aus Stein, Erde und Seltsamkeit, das sich fast 250 Kilometer in den Himmel erhob und die Nördliche von der Südlichen Welt trennte. Im Schatten der Mauer gab es danach noch weniger Nahrung als sonst, denn zuerst mussten Boote neu gebaut und Netze neu geknüpft werden; aber kein anständiger Kerl konnte auf eine ordentliche Mahlzeit verzichten. Also hungerten die Frauen und ihre Kinder schweigend, um den Schlägen der betrunkenen Männer zu entgegen.
Niemand wagte es, Paolina Barthes eine Mahlzeit zu versagen. Ob sie nun von Dämonen besessen oder von Gott ausersehen war, vermochte niemand zu sagen, aber sie hatte Praia Nova nach der Flut gerettet. Obwohl sie schmal wie ein Knabe gebaut war und ihre Tage noch nicht bekommen hatte, trug sie das schwarze Leinenkleid, das alle erwachsenen Frauen bevorzugten.
Die fidalgos verbrachten ihre Freitagabende in der großen Halle am Rande von Praia Nova. Die fidalgos hatten sich beim Bau dieses Gebäudes von sturer Entschlossenheit leiten lassen – eine Eigenschaft, die sie am stärksten auszeichnete –, denn bis Paolina sich einmischte, hatten weder Architekten noch Ingenieure ihre Hände im Spiel gehabt. Dickköpfig wie sie waren, hatten sie über Generationen hinweg ein Ungetüm aus Korallen erschaffen, die sie den Riffen am Fuß von a Muralha entrissen hatten. Unter großen Mühen und Qualen hatten sie Granit von der Mauer abgeschlagen und den Marmor bei heimlichen, angstvollen Streifzügen aus den Städten der Enkidus weit über ihnen entwendet. Das Resultat war eine Art Mischung aus einer Kathedrale und einem Geräteschuppen. Wie dem auch sei, es hatte die Beben überstanden, die die Flut mit sich gebracht hatte, im Gegensatz zu vielen der traditionell aus Lehmziegeln gebauten Häuser.
Es hatte auch gewisse Ähnlichkeit mit einem Harlekin. Die verschiedenen Baumaterialien und -stile hatten aus dem Ding im Lauf der Jahre Stückwerk werden lassen, dem bunten Mantel Josefs gleich, der den leuchtenden Vorbildern Praia Novas während ihrer sorgfältigen Beratungen Schutz gewährte.
Heute waren sie betrunken und verängstigt.
Paolina wusste es, wie sie die meisten Dinge wusste. Sie erkannte es an Gerüchen in der Luft, dem Rhythmus, in dem die Gläser auf den Tisch geschlagen wurden, und aufgrund der Tatsache, dass ein weiteres von Fra Bellicos Kindern an diesem Tag im harten, kargen Boden Praia Novas beerdigt worden war, 317 Stufen über dem Anlegesteg aus Korallen und dem gnadenlosen Meer.
Sie ging auf dem Weg zur großen Halle, den sie Rua do Rei – die Königsstraße – nannten. Tatsächlich hatten nur vier der Männer und eine Frau aus Praia Nova jemals eine Straße gesehen, und sie kannten keinen König außer dem Allmächtigen Gott. Die Rua do Rei war gerade breit genug, um zwei Ziegen aneinander vorbeigehen zu lassen, und ein Seil bot ein gewisses Maß an Sicherheit, wenn einer der schlimmen Stürme vom Atlantik her auf die Mauer zuraste. Auf der einen Seite fiel der Weg in eine Schlucht hinab, in die die Dorfbewohner den verschwindend geringen Anteil des Mülls warfen, den sie nicht zum wiederholten Male wiederverwendet hatten. Auf der anderen Seite erhob sich ein Stück von a Muralha .
Juan und Portis Mendes hatten einen Jungen gefunden, aber niemand hatte ihn zu ihr gebracht. Stattdessen hatten die Narren ihren Fang zu den fidalgos gebracht.
Sie hatte gehört, dass er Engländer und nicht wie alle anderen Bewohner Praia Novas über das Meer gekommen sei. Ganz im Gegenteil, er war auf dem östlichen Pfad aus den Ländern und Königreichen von a Muralha zu ihnen gekommen, auf dem Pfad, der in das mythische Afrika führte.
Paolina hasste es zutiefst, Dinge gesagt zu bekommen. Sie mussten sie nur sehen lassen, und sie würde eine Lösung finden. Als die Erdbeben die Quellen versiegen ließen, die Praia Nova früher mit Wasser versorgt hatten, hatte sie die pedalbetriebene Pumpe gebaut, die Wasser aus dem westlichen Bach nahe Meereshöhe zu ihnen hinaufschaffte. Als Jorg Penoyers Bein im Kohlenabbaustoß stecken geblieben war, hatte sie die Druckpunkte im Fels herausgefunden und ihn
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