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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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mit dem Gedicht »Wenn«. Genau da unterbrach mich Claire.
    »Das ist mein Lieblingsgedicht!«, sagte Claire und setzte sich in ihrem Bett auf. »Kannst du es auswendig?«
    »Und ob ich es kann!«, antwortete ich. »Mit einem Eimer über dem Kopf und einem Fuß in einem Ameisenhaufen könnte ich jedes verflixte Wort davon auswendig aufsagen:
    »Wenn du kühlen Kopf bewahrst,
    wo alle andern ihren verlieren
    und dir dafür die Schuld zuschieben …«
    Ich sagte das Gedicht von Anfang bis Ende auf, wie immer ohne über ein einziges Wort zu stolpern. Dann sagte Claire es mit mehr Begeisterung auf, als ich es getan hatte. Dann rezitierten wir das ganze »Wenn«-Gedicht gemeinsam und unterstrichen es mit all den Gesten und dramatischen Betonungen, die Mr Kipling zweifellos selbst hineingelegt hatte, als er das Gedicht 1891 erstmals niedergeschrieben hatte.
    Schließlich kletterte ich nach oben in meine Koje und starrte aus dem Fenster.
    Unser Zug raste durch kleine Städte irgendwo in Utah oder Colorado dahin. Straßenlaternen flackerten für Bruchteile von Sekunden an uns vorbei. Die Rücklichter eines Lastwagens verschwanden auf einer leeren Straße am Horizont und eine Feuerwehrsirene heulte irgendwo auf einer verlassenen Straße. Ich konnte sie durch die dicken Fensterscheiben gerade noch hören. Unser Zug donnerte an Abstellgleisen, Knotenpunkten und den schachbrettartigbemalten Schranken und rot blinkenden Signalen vorüber, wenn wir die Bahnübergänge passierten. Kleine Bahnwärterhäuser sausten entlang der Schienen vorbei, alle von den Eisenbahngesellschaften aus dem gleichen roten Backstein gebaut. Vor jedem von ihnen schwangen grüne Ampeln an Eisenhaken und leuchteten in der Abenddämmerung wie Katzenaugen. Allmählich verdunkelte sich der Himmel, ein rötlich schwarzer Vorhang senkte sich über die letzten feurigen Spuren der untergehenden Sonne herab.
    »Kannst du die Namen der Stationen lesen?«, fragte ich Claire, während die Bahnhofsschilder der verschlafenen Städte des Westens in der Dunkelheit vorüberflimmerten.
    »Nein. Der Zug fährt zu schnell«, sagte Claire, »aber erzähl weiter, Oscar. Was ist dann passiert?«
    Ich kam zum Banküberfall, wie Stackpole und McGee am Nachmittag des Heiligen Abends ins Foyer eingedrungen waren und Mr Applegate auf den Kopf geschlagen hatten und wie sie die Waffe direkt auf mich gerichtet hatten. Die Erinnerung war noch immer frisch und meine Stimme zitterte ein bisschen, als ich es erzählte.
    »Du bist gesprungen?«, fragte Claire.
    »Ich hatte keine Wahl. Es hieß, spring oder stirb.«
    Claire lauschte dem Rest meiner Geschichte, über Dutch und Mr H. und Miss Chow und wie Cyril Pettishanks beim Frühstück in seiner Rekrutierungs-Uniform erschienen war.
    »Und du hast es wieder getan?«, sagte Claire. »Du bist auf einen anderen Zug gesprungen? Auf den, in dem wir jetzt sind?«
    »Miss Chow rief: ›Spring!‹«, erklärte ich. »Es ging darum, entweder sofort zu springen oder später über Sibirien aus einem Flugzeug zu springen und den Russkis zu helfen, gegen die Krauts zu kämpfen«, sagte ich.
    »Wer sind die Russkis und wer sind die Krauts?«
    Claires Fragen fingen an, mir Kopfschmerzen zu bereiten. »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist«, sagte ich. »Der Krieg fängt für Amerika überhaupt erst 1941 an.«
    Claire begann wieder, mit dem Finger an der Fensterscheibe zu malen. »Weißt du was, Oscar?«, sagte sie. »Daddy würde seinen Eckzahn dafür geben, wenn er in die Zukunft blicken könnte, und alle seine Freunde genauso. Die Zukunft ist sein Geschäft.Das heißt, der Aktienmarkt. Jeden Morgen beim Frühstück sagt Daddy über seinen Cornflakes: ›Jeder, der aus den Teeblättern die Zukunft lesen kann, wird reich.‹«
    »Ich hab gedacht, dein Vater ist schon reich«, sagte ich.
    Claire grunzte. »Oh ja, er ist reich, das stimmt. Aber du musst verstehen, wie das mit wirklich reichen Leuten ist, Oscar. Die meisten von ihnen versuchen einfach nur, ihr Geld zu verdoppeln, dann zu verdreifachen. Damit verbringen sie ihre Tage. Daddy würde seinen rechten Arm dafür geben zu wissen, was du weißt, Oscar.«
    »Na ja, eines Tages kannst du’s ihm sagen, Claire.«
    »Er würde lachen«, sagte Claire. »Er würde kein Wort glauben. Das heißt, wenn er mir je verzeiht, dass ich von zu Hause ausgerissen bin. Wahrscheinlich haben sie meinetwegen einen Dreizehn-Staaten-Alarm ausgelöst. Wenn ich nach Hause zurückkehre, werden sie mich einen Monat lang in der

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