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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Wohnung einsperren. Dann wird alles wieder von vorn anfangen, mit Puppen und Tanzstunden und weißen Baumwollhandschuhen.«
    Irgendwo fuhr ein anderer Zug pfeifend um eineGleisbiegung. Wohin war er unterwegs? Wo im Universum mochten wir sein? Die Präriestaaten zogen an uns vorüber, Farmhäuser, alle in tiefem Schlaf in den Armen der Nacht.
    Wir knipsten beide gleichzeitig die kleinen Bettlampen aus. In der rollenden Dunkelheit erzählte ich Claire mein ganzes Leben, selbst die geheimsten Gedanken und Gefühle, die je für mich von Bedeutung gewesen waren. Sie erzählte mir aus dem unteren Bett das Gleiche von sich. Wir redeten, bis unsere Zungen so schwer vor Müdigkeit waren, dass wir keine Worte mehr herausbrachten.
    Bevor es hell wurde, veränderte sich das Fahrgeräusch und der Zug verlangsamte seine Fahrt. Ich wachte auf. Jetzt konnte ich die Namen der Stationen lesen. Naperville glitt vorbei. Ich wusste, dass Naperville gleich westlich von Chicago lag. Ich weckte Claire, indem ich an den metallenen Bettpfosten klopfte, der die obere und die untere Koje verband. »Wir sind gleich in Chicago!«, flüsterte ich. »Wir werden langsamer! Ich muss mich beeilen!«
    »Oh, Oscar!«, sagte Claire. »Ich werde dich nie mehr wiedersehen!«
    »Ich muss gehen, Claire!«, sagte ich und sprangvon meinem Bett hinunter. »Aber ich werde einen Weg finden!«
    Gemeinsam warteten wir an der Tür des Zugs. »Leb wohl!«, sagte ich, als der Bahnsteig der Dearborn Station auf unserer Seite auftauchte.
    Plötzlich gab es einen Ruck und der Zug schwenkte nach links auf ein anderes Gleis ein. Dann beschleunigte er seine Fahrt und mein Herz rutschte mir in die Hose. Wir hatten gar nicht gehalten. Wir rasten an der Dearborn Station vorbei; der Twentieth Century wartete auf einem Nebengleis zu unserer Linken. Wir fuhren südlich der großen Seen und ostwärts nach New York.
    Ich setzte mich auf mein Bett und sah teilnahmslos die Ausläufer von Chicago vorbeiziehen. »Oh nein, nein, nein!«, stöhnte ich. »Ich werde meinen Dad nie mehr wiedersehen. Ich möchte nach Hause und jetzt geht es nicht mehr!«
    »Ich hab etwas Schreckliches getan, Oscar«, flüsterte Claire.
    »Was hast du getan?«, fragte ich ohne großes Interesse.
    »Gestern Nacht, als wir aufgehört haben zu reden, habe ich gebetet. Ich hab mir ganz fest gewünscht,dass du irgendwie in dem Zug bleiben würdest. Ich hab versprochen, mein ganzes Leben lang brav zu sein. Und nun ist es passiert. Gott hat mich erhört«, sagte Claire. »Und jetzt muss ich es an dir wiedergutmachen.«
    »Nein, Claire«, entgegnete ich. »Ich fürchte, mein Dad ist schuld daran.«
    »Dein Dad?«
    Ich seufzte tief über die Aussicht, alles noch einmal erklären zu müssen. »Vor zwei Tagen«, sagte ich, »haben Dad und ich die Züge auf der Crawford’schen Anlage in Gang gesetzt. Dad hat sich mit der Weichenstellung geirrt. Er wollte diesen Präsident auf direktem Weg durch das ganze Land fahren lassen. Er muss die regulären Züge von Chicago nach New York auf ein Seitengleis verschoben, in Chicago eine Weiche eingebaut und diesen Zug nonstop bis zur Grand Central Station von New York City geschickt haben.«
    Claire schnitt ein Gesicht.
    »Bist du katholisch, Claire?«, fragte ich.
    »Nein. Ich gehöre der Episkopalkirche an«, sagte Claire.
    Ich stellte mir die episkopalen Gebete viel leichterund heiterer vor als die katholischen, aber das sagte ich nicht.
    »Keine Sorge«, sagte ich. »Ich hab noch nie gehört, dass episkopale Gebete Leute in Schwierigkeiten gebracht haben.«
    »Ich werd die Sache für dich wieder in Ordnung bringen, Oscar«, sagte Claire. »Ich werde Daddy dazu bewegen, dass er dich mit einem echten Zug nach Chicago schickt.«
    Das war wohl die einzige Möglichkeit. Wenn ich Glück hatte, würde ich zwar nach Hause kommen, aber es würde dann auch in Cairo 1926 sein. Ich würde wieder in den Kindergarten gehen. Möglicherweise würde ich alles noch einmal durchmachen müssen, den Verkauf der Züge, Tante Carmens Eintöpfe und die Bankräuber. Und nach einiger Zeit würde ich davon nichts mehr wissen, weil ich die Zukunft vergessen haben würde, sobald ich sie hinter mir hatte.
    Als die Sonne aufging, zeigte Claire aus dem Fenster. Draußen erhob sich ein sanfter Hügel, dessen kahle Bäume mit Raureif bedeckt waren. »Ich glaube, wir sind im westlichen Pennsylvania«, sagte sie.
    Ich wusste es nicht. Die Gegend sagte mir nichts, aber nach einer Stunde wurde der Zug wieder

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