Die rätselhaften Worte
bitte?«
»Polizistenwitz.
Grievous bodily harm –
schwere Körperverletzung. Komischer Titel. Warum hat er das Stück so genannt?«
»Weil er in einer Zeit gelebt hat, in der man davon ausgehen konnte, daß ein Großteil des Publikums nicht nachzufragen brauchte, warum er es so genannt hat.«
»Aha. Und zwar, weil …?«
»Weil klassische Bildung noch als das pädogogische
summum bonum
der begüterten Schichten galt. Und wenn man nicht wenigstens die erste Zeile von Vergils
Äneis
gelesen hatte, dann hatte man seine Jugend vergeudet.
›Arma virumque cano‹,
was Dryden mit ›Arms and the man I sing‹ übersetzt. Damals ein guter Titel. Heute aber müßte ein Autor schon ganz sicher sein, daß er ein hochgebildetes, intelligentes und aufmerksames Publikum hat, um so etwas zu wagen.«
»Das klingt so wehmütig. Findest du, das waren bessere Zeiten?«
»Selbstverständlich. Erstens waren wir noch nicht geboren. Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser – freilich das beste wäre, nie geboren zu sein.«
»Mein Gott!« rief er. »Das klingt ja ziemlich krank. Schon wieder ein Bonmot von Vergil?«
»Nein. Von Heine.«
»Etwa von dem Dichter Heine, diesem Kraut, den Charley Penn übersetzt?«
Das Ganze kam ihm irgendwie vertraut vor.
»In zivilisierten Kreisen bezeichnet man sie immer noch als Deutsche«, entgegnete sie ernst. »Man muß sie nicht mögen, aber das ist noch lange kein Grund, so garstig über sie zu reden.«
»Tut mir leid. Dasselbe gilt für Penn, oder?«
»Klar. Und er hat sogar viel an sich, was man mögen kann. Selbst seine unverkennbare Obsession für meine Wenigkeit muß man nicht unbedingt verwerflich finden. Ich habe gerade eine seiner Übersetzungen zitiert, die er mir unterbreitete, nachdem ihn meine Weigerung, mich von ihm begrapschen zu lassen, in Verzweiflung stürzte.«
Allmählich begriff Hat, welch ausgeklügelte Kriegslist sich hinter Ryes Spöttelei verbarg. Sie ließ Türen einladend angelehnt, und ein Trottel, der sich verleiten ließ einzutreten, lief Gefahr, eine kalte Dusche abzukriegen oder in den Fahrstuhlschacht zu fallen.
»Und was soll das mit dem Schlaf heißen?« fragte er.
»Es heißt, daß wir früher einmal den besten aller möglichen Zustände genossen haben, nämlich, nicht geboren zu sein. Aber dann sind unsere Eltern auf einer Heuwiese, auf dem Rücksitz eines Autos oder zwischen zwei Akten bei der Aufführung eines Shaw-Stücks in Oldham aneinandergeraten, haben alles vermasselt und uns ohne Nachfrage gezwungen, strampelnd und schreiend auf dieser zugigen alten Bühne unseren Auftritt hinzulegen. Möchtest du einen Kaffee?«
»Warum nicht?« Er folgte ihr in die kleine Küche, die genauso ordentlich war wie das Wohnzimmer. »Hey, ist das der Grund, warum du Raina heißt? Weil sie in diesem Stück gespielt haben, als sie …? Das finde ich echt romantisch.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich verstehe nicht, warum du darüber so zynisch sprichst. Eine schöne Geschichte und ein schöner Name. Stell dir vor, du würdest …« Er schlug das Personenverzeichnis des Stücks auf. »… Sergius heißen? Wie findest du das? Sergius Pomona! Dann hättest du wirklich Grund, dich zu beklagen!«
»Mein Zwillingsbruder fand das nicht so schlimm.«
»Du hast einen Zwillingsbruder?«
»Ich hatte einen. Er ist gestorben«, sagte sie und löffelte Kaffee in die French-Press-Kanne.
»Oh, Scheiße. Tut mir leid, ich wußte nicht …«
»Woher solltest du auch? Er hat mir den Shakespeare geschenkt, den du dir angesehen hast.«
Serge. Die Widmung fiel ihm wieder ein, und er errötete bei dem Gedanken an seine kindische Eifersucht.
Um seine Verwirrung zu verbergen, plapperte er weiter: »Ja, natürlich, das erklärt die Widmung – die Königin, erster Mai, Maikönigin, und er war der Clown-Prinz …«
»Er hat so gern gelacht«, sagte sie leise. »Wenn ich traurig war, hat er mich immer aufgemuntert. Von ihm hab’ ich mich gerne Raina nennen lassen.«
»Ich finde, es ist ein schöner Name«, erklärte Hat standhaft. »Und Sergius auch. Ich bin mir sicher, daß deine Eltern dabei die besten Absichten hatten. Nach den Figuren eines Theaterstücks benannt zu werden … auf so eine romantische Idee wäre in meiner Familie keiner gekommen.«
»Nett von dir«, murmelte sie. »Ja, es gab eine Zeit, da fand ich es auch romantisch, wenn meine Eltern erklärten, wir seien nach Raina und Sergius benannt, den beiden ach so romantischen Personen in dem Stück, weil das die
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