Die rätselhaften Worte
Constable Shirley Novello stetig gestiegen war. Gleichzeitig aber war sie, wenn er sich recht erinnerte, ständig mit kleinen Aufträgen und freundlichen Neckereien bedacht worden. Warum sollte er sich also jetzt über eine Behandlung ärgern, um die er Shirley einmal beneidet hatte?
Außerdem würde er Rye besuchen, und das war eine Aussicht, die automatisch seine Stimmung hob.
Im wirklichen Leben geschieht es selten, daß ein Mann seiner Phantasien tatsächlich und detailgetreu ansichtig wird, und der Schock darüber ist häufig kontraproduktiv.
So verhielt es sich, als sich die Tür von Ryes Wohnung öffnete und sie vor ihm in einem lose gebundenen Bademantel stand, zwischen dessen Falten glattes Fleisch hindurchschimmerte, weich und fest zugleich und alles so üppig goldbraun wie Gerste vor der Ernte.
Wie angewurzelt stand er sprachlos da, als hätte er die Medusa vor sich und nicht seine Angebetete, bis sie sagte: »Kommen da noch Worte aus deinem Mund, oder steht er nur offen, damit die Fliegen Schutz vor dem Regen finden?«
»Tut mir leid … ich bin nur nicht … es heißt, du wärst krank, und da dachte ich mir … tut mir leid, daß ich dich aus dem Bett geholt habe …«
»Das hast du nicht. Es geht mir schon ein bißchen besser, und da bin ich aufgestanden, um zu duschen. Aber ich dachte, ein Mann aus deiner Sparte würde da selbst drauf kommen.«
Sie zog den Frotteebademantel enger zu, und jetzt hob er die Augen und sah, daß ihr Wasser aus den Haaren übers Gesicht lief. Sie waren so naß, daß das schöne Braun fast schwarz wirkte und die silbergrauen Haare wie Glühfäden hervorleuchteten.
»Ist das für mich, oder handelt es sich um Beweisstücke in deinem neuesten großen Fall?«
Er hatte völlig vergessen, daß er einen Strauß Nelken in der einen und eine Schachtel belgischer Pralinen in der anderen Hand hielt.
»Tut mir leid, ja. Hier.«
Er hielt ihr seine Gaben entgegen, aber sie grinste nur. »Wenn du glaubst, daß du mich dazu bringst, den Bademantel loszulassen, dann ist das ein Irrtum. Komm rein und leg sie irgendwo ab, während ich mich vorzeigbar herrichte.«
»Hey, mach dir keine Umstände von wegen vorzeigbar«, rief Hat ihr nach, als sie verschwand. »Ich bin Polizist. Wir werden geschult, mit jeder Situation fertig zu werden.«
Er legte seine Mitbringsel auf den Kaffeetisch und sah sich um. Das Zimmer war nicht groß, aber so hübsch und ordentlich, daß es geräumiger wirkte, als es war.
Er trat ans Bücherregal. Bücher sagen viel über einen Menschen aus, hatte er einmal irgendwo gelesen. Aber nur, wenn man selbst viel über Bücher wußte, was bei Hat nicht zutraf. Eines war aber offensichtlich, nämlich, daß hier viele Theaterstücke standen. Das erinnerte ihn daran, daß Rye aus einer Schauspielerfamilie stammte. Er zog eine Werkausgabe Shakespeares heraus und schlug die Titelseite auf. Da stand ein Datum,
1.5.91
, und eine Widmung:
Für Raina – Alles Gute zum Fünfzehnten an die Königin von ihrem Narren – Alles Liebe von Serge xxxxxxxxxxxxxxx
Fünfzehn Küsse. War es Eifersucht, die da in ihm aufstieg? Auf jemanden, den er nicht kannte, der uralt sein mochte und Rye vor Jahren, als sie selbst noch ein Kind war, ein Geschenk gemacht hatte? Sei lieber vorsichtig, mein Junge, ermahnte er sich. Wie er bereits festgestellt hatte, konnte jedes Anzeichen zwanghafter Besitzansprüche Rye vor den Kopf stoßen.
»Bildest du dich weiter?« fragte sie.
Er drehte sich um. Sie trug jetzt ein T-Shirt und Jeans, rieb sich aber noch die Haare mit einem Handtuch trocken.
»Für Raina«,
sagte er. »Ich hatte deinen richtigen Namen vergessen.«
»Rai-iina«, korrigierte sie seine Aussprache. »Sonst müßtest du mich Ray nennen.«
»Rye ist besser.«
»Lieber Whisky als Sonnenschein?«
»Brot statt Fische«, antwortete er grinsend.
Sie überlegte und nickte dann zustimmend.
»Nicht schlecht für einen Freund und Helfer«, meinte sie.
»Herzlichen Dank. Woher kommt der Name eigentlich? Das hast du mir noch gar nicht erzählt.«
»Ich erinnere mich nicht, daß du gefragt hättest. Aus einem Stück.«
»Shakespeare?« fragte er und stemmte die Gesamtausgabe in die Höhe.
»Der nächste im Alphabet«, sagte sie.
Sie trat ans Regal und zog einen Band heraus.
Er stellte den Shakespeare zurück und nahm ihr das Buch ab.
»Arms and the Man
von G. B. Shaw«, las er.
»Kennst du Shaw?«
»Ich hab’ mal seinen Bruder eingelocht. GBH Shaw.«
»Wie
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