Die Rättin
Raumkapsel: ich. Auf meiner Umlaufbahn: ich. In deinen und meinen Träumen: ich, du und ich!
Hast ja recht, Freundchen, lenkte sie ein. Wie tröstlich, daß jemand da ist, der ich ich ich, immerzu ich sagt; schon verehren wir dich ein wenig. In den städtischen Zufluchten und Revieren gibt es Rattenvölker, die dich geradezu anbeten: Sobald sie auf Plätzen oder in Kirchen den aufrechten Gang üben, meinen sie dich. Wir ländlichen Rattenvölker hingegen haben außer dir noch jemand, dessen immer noch atmende Reste anbetungswürdig sind. Ein Bündelchen nur, aber belebt. Offenbar eine uralte Frau. Die blieb in ihrem Lehnstuhl, als alle rausliefen und hopsgingen. Mühsam lebt sie, von uns Ratten ernährt. Wir tun der Alten gut. Hat sie Durst, tränken wir sie. Wie dich städtische Ratten anbeten, beten Landratten sie an. Und sie, die Uralte brabbelt für uns: Wie es früher gewesen ist. Was alles vergangen bleibt. Wer auf Besuch kam. Was ihr Leid brachte, das bißchen Freude nahm und zu schmerzen nicht aufhören wollte.
Aber das ist doch, rief ich. Rättin, ich bitte dich! Noch steht ihr Geburtstag bevor. Erst morgen ist Sonntag. Sie will feiern, gefeiert werden.
Jaja, sagte die Rättin. Aber nun will sie sterben und kann nicht. Deshalb erzählt sie uns traurige und manchmal auch lustige Geschichten von früher. Aus Vorkriegs-, Kriegsund Zwischenkriegszeiten. Wie die Kaschuben mit Polen und Deutschen mal leidlich, mal elend lebten. Und wie sie als junges Ding mit Pferdchen und Wagen, dann, als der Fortschritt kam, mit der Eisenbahn von Kokoschken auf städtische Wochenmärkte gefahren ist. Und was alles ihre Kiepen füllte: Kartoffeln und Wruken, Gurken und Himbeeren. Frische Eier, einen Gulden die Mandel, hat sie verkauft. Und auf Martin zwei Gänse. Und jeden Herbst körbevoll Grünlinge und Maronen, Pfifferlinge und Braunkappen, weil in den Wäldern der Kaschubei die Pilze zuhauf standen
Bei aller Skepsis: Dieser Wald ist immer noch heil. In unserem Film, der Grimms Wälder heißt, stehen hier dunkelnd, dort licht Buchen, Tannen, Eichen, Eschen und Birken, Ahorn und Ulmen sogar. Gebüsch öffnet, schließt sich. Getier im Unterholz. Immer neues Grün, aber auch spätsommerliche, frühherbstliche Farben. Die Vogelbeeren der Ebereschen. Aus Moosund Nadelgründen schießen Kremplinge und Flaschenboviste, der Parasol. Unter Eichen rufen Fliegenpilze nahstehende Steinpilze aus. Schuppig der Habichtpilz. Aus Baumstümpfen wuchert in Horden der Hallimasch. Und Blaubeeren, mit Kämmen zu ernten. Dann wieder säumt Farn den Waldweg, auf dem die Märchengestalten, Rübezahl und die Zwerge zu Fuß, die anderen im alten Ford mit Rumpelstilzchen am Steuer, zum Tatort unterwegs sind.
Einer der Zwerge, ich glaube, der zweite, der auf dem Trittbrett fährt, während die anderen eilig tippeln, ruft: »Halt!« Alle Sieben breiten auf Moos zwischen Pilzen, die im Hexenkreis stehen, eine handgezeichnete Waldkarte aus. Sie messen, vergleichen, streiten um Daumensprünge, geben endlich die neue Richtung an: »Hier ist es, hier!« Und hier finden sich auch die Hände des Mädchens ein, die mit der Schaufel vorausgeflogen sind und nun tätig werden.
Denn hier muß der Waldweg umgelegt, muß die alte Wegspur gelöscht werden. Sogar Jorinde und Joringel, die außer traurigsein nichts können, müssen schaufeln und hacken. Die Hexe befiehlt mehreren Bäumen, sich zu entwurzeln und an bezeichneter Stelle neu Wurzeln zu schlagen. Des Mädchens abgehauene Hände schaufeln ein Loch, in das der dritte und vierte Zwerg einen Wegweiser setzen, der vorher in ganz andere Richtung wies.
Der Froschkönig legt sich in einen Waldbach, wird zum Frosch und leitet den Bach in ein neues, den alten Weg kreuzendes Bachbett, worauf er wieder zum König wird, der seiner Dame, die untätig leidet, die Stirn mit Quellwasser kühlt.
Auf allen vieren kriecht Rübezahl über den alten Weg. Wo immer sein Bart die Wegspur berührt, treibt Moos, wächst Farn, schießen Pilze.
Weil Rumpelstilzchen wieder mal aufstampft, muß ein Ameisenberg sieben Sprünge weit umziehen und sich samt Eiersegen und Aufzucht neu einrichten. (Nach Anweisung unseres Herrn Matzerath soll sich das dumme Rotkäppchen in einen hohlen Baum hocken, dort Daumen lutschen und den fleißigen Märchengestalten faul zugucken.) Jetzt ist der falsche Waldweg täuschend echt und der richtige kaum mehr zu ahnen. Worauf die Böse Stiefmutter Befehle erteilt: Rübezahl muß Dornröschen gewaltsam vom Prinzen
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