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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Maschinenpistolen, die immer drehbereiten Fernsehmänner und auf Stichworte lauernden Journalisten. Und während sie noch streitend aufeinander deuten, mit den Maschinenpistolen den Feind suchen, Notizen kritzeln, die Fernsehkamera surren lassen und Torte mampfen, sinken alle mit Dornröschen in tiefen Schlaf. Sogleich beginnt aus der Ödnis zwischen den toten Bäumen eine Dornenhecke zu wachsen, die immer höher schießt, dichter wird, undurchdringlicher, als treibe sie Stacheldraht, bis die erstarrte Gesellschaft zu Füßen der Turmruine, in der Dornröschen schläft, verschwunden, bis die Regierung mit allem Drum und Dran nicht mehr da ist.
Im Zauberspiegel auf dem Denkmalsockel sehen die Märchengestalten und die Grimmbrüder den Erfolg ihrer Aktion. Es herrscht Freude. Sogar den Grimmbrüdern will diese Spielweise von Entmachtung gefallen.
Und freudig werden Hänsel und Gretel, der vierte Zwerg und die abgehauenen Hände begrüßt. Die Hexe gratuliert ihnen:
    »Großartig habt ihr das gemacht, Kinder!«
Alle klatschen Beifall, auch die abgehauenen Hände. Nur die Grimmbrüder sehen wir verstört, weil sie die vermißten Kanzlerkinder hier wiedersehen: aufgehoben als Hänsel und Gretel. Zwar begrüßt Wilhelm Grimm die beiden freundlich mit dem Untertitel: »Und wir haben befürchtet, der Russe habe die Kanzlerkinder entführt«, doch Jacob Grimm ist voller Bedenken: »Ach, eure armen Eltern! Außerdem gibt es keine Regierung mehr. Unordnung wird herrschen. Chaos droht!« Da löst sich der wachküssende Prinz aus Rapunzels Haar und bietet den Grimmbrüdern seine Dienste an: »Soll ich Dornröschen wieder wachküssen? Ich kann das!«
Er will fortlaufen, aber sogleich hängen die drei Aufpasserzwerge an ihm. Ganz und gar Berggeist, Köhler und Wilder Mann, ohrfeigt Rübezahl den Prinzen. Hänsel ruft: »Es wird hiergeblieben!« (Und bevor er nach Polen abreiste, sagte unser Herr Matzerath noch, an dieser Stelle müsse des Froschkönigs Dame dem weinenden Prinzen ihre geplagte Stirn zum Kuß anbieten; aber ich meine, es würde diese Nebenhandlung vom weiteren Geschehen nur ablenken.)
Ohne Umstände wollen alle Märchengestalten den Grimmbrüdern nun ihre Pension, das Knusperhäuschen zeigen, wohin mittlerweile viele Lastschnecken, eine der anderen folgend, alle Bände des Grimmschen Wörterbuchs geliefert haben; die letzte trägt den Band zweiunddreißig: von Zobel bis Zypressenzweig...
    Immer noch liest die Großmutter aus dem Märchen dem Bösen Wolf aus dem Märchen
aus dem Wörterbuch vor.
    Sein Wolfsbauch, den ein Reißverschluß öffnet und schließt, ist voller Wörter
aus alter Zeit: Wehmutter, Wehrmut, Wehleid...
    Jetzt findet die Großmutter in Grimms Wörterbuch, von dem mittlerweile alle Bände aufliegen, den Namen der Stadt Vineta, in der die Vineter wohnten,
    bis die See über die Stadt kam. Da heult der Wolf und will aus dem Mund der Großmutter mehr hören, als über Vineta geschrieben steht.
    Läuten, Geläut, Glockengeläut, sagt die Großmutter zum Wolf aus dem Märchen, hört man
bei Windstille über der glatten See.

Nein, sie können nicht schlafen. Singsang, der nicht enden will, findet zu den Hängematten im Bugraum des ankernden Schiffes. Ihr sanften Aurelien, lichtdurchlässig und milchig; ihr bläulich bis violett gezeichneten Ohrenquallen, Medusenschwärme, die, wie man weiß, von Plankton und Heringslarven leben; ihr, kaum erforscht und deshalb von schlimmstem Ruf, weil ihr die See, morgen schon meine See, das Baltische Meer in eine einzige Qualle wandeln könntet; ihr mit der Drift wandernden Schönen, denen, wie landgebundenen Ratten, des Menschen Ekel gewiß ist; ihr, tellerbis schüsselgroß, deren Biomasse empfindsam voller Geheimnis bibbert ihr Unsterblichen, deren unausgezähltes Sein als lautlos verbrieft war, könnt singen.
Kein Wunder, daß die Frauen keinen Schlaf finden. Allzu mächtig ist diese Musik. Sie wälzen und werfen sich in den Hängematten. Mein Gutzureden bleibt, wie immer, ohnmächtig. Schon verflucht die Alte den Medusengesang: streitsüchtig mache er. Die Steuermännin gräbt alte Geschichten aus. Sie legt sich wegen verjährter Worte mit der Meereskundlerin an, dann meint sie angriffig Damroka: die Kapitänin habe den Forschungsauftrag verraten und das Schiff auf vernunftwidrigen Kurs gebracht. Nicht Mythen und Sagen gelte es nachzulaufen, vielmehr müsse bewiesen werden, daß der Ostsee die ökologische Katastrophe drohe. Damroka habe versagt und nur noch

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