Die Rättin
Nachbarschaft wert. Neutralität ist ihnen eingeboren. Wohltuend skandinavisch benehmen sie sich, als wäre ihnen überdies gentechnisch ein gewisses sozialdemokratisches Verhalten vermittelt worden; das sagen wir uns zur Beruhigung.
Noch nie hat sich ein Watsoncrick auf dem Langen Markt, vorm Rathaus oder Artushof sehen lassen. Frei von Neugierde, reicht ihnen ihr Revier. So sehr wir um ihre und unsere Zukunft bangen, so wenig scheinen sie sich zu sorgen: erhaben ruhen die Manipulierten in sich. Schwindende Vorräte und drangvolle Enge hindern sie nicht, blond und blauäugig mehr und mehr zu werden. Bedrohlich nimmt ihre Schönheit zu: aus allen Speicherluken schimmert sie glatt und gelockt.
Noch erfreut uns ihr Liebreiz, doch auffällig ist neuerdings, daß sich die ausgewachsenen Nippels zu Übungen versammeln. Über die Mottlau hinweg sehen die Rättin und ich, wie sie Kolonnen und keilförmige Formationen bilden. Aufrecht gehend üben sie Gleichschritt. O Gott! Sie marschieren. Sie schwenken links ein, machen kehrt nach rechts, sie treten auf der Stelle, erstarren auf Befehl, werfen den Blick in die befohlene Richtung, schreiten voran abermals. Übers ruhige Wasser hören die Rättin und ich ihre Kommandos. Eine gaumige, wenn man will, gemütlich anmutende Sprache, die mich an das Gebrabbel jener Mitbringsel erinnert, die unser Herr Matzerath für die armen Kaschubenkinder nach Polen einführte; ist mir doch, als hörte ich die Watsoncricks immerfort rufen: Rechtsschlumpfmarsch! Schlümpft um! Im Gleichschritt Schlumpf! Schlümpf zwo drei vier, Schlümpf zwo drei vier, Schlümpf...
Sie kommen! Der Zauberspiegel der Bösen Stiefmutter, vor dessen Bildschirm sich alle im Knusperhäuschen Versammelten drängen, zeigt nie gesehene Raupenfahrzeuge, die den plötzlich offenen Schlund unterirdischer Betonsilos verlassen. Mit schwenkbaren Greifern, dem ausgefahrenen Räumgatter, dem Dorn, den Rammböcken, mit ihren seitlich gelenkigen Saugrüsseln sind sie sagenhaften Drachen ähnlich; deshalb werden sie, wie man Kampfpanzer nach Raubtieren benennt, »Räumdrachen« genannt.
Jetzt walzen die Räumdrachen auf der Autobahn alles Grünzeug nieder und kommen näher und näher. (Unser Herr Matzerath wünscht, daß diese Spezialfahrzeuge, die bisher einzig in Indien und Südamerika für das Abräumen weitläufiger Slumgebiete gut waren, nun aber jedermann vertreiben, der soeben noch die Märchenregierung Grimm feierte, überdies mit Flammenwerfern bestückt sind. Ich spreche mich gegen solch altertümliche Bewaffnung aus, muß aber damit rechnen, daß sich Oskars Frühprägungen am Ende durchsetzen; so tief hat ihn der Einsatz von Flammenwerfern beim Kampf um die Polnische Post beeindruckt.)
Im Knusperhäuschen breitet sich Panik aus. König Drosselbart bangt um seinen Besitz. Die Guten Feen weinen, die Bösen winden sich wie getreten. Jorinde, Joringel versteinert. Als friere es sie, hüllt Rapunzel sich in ihr Langhaar. Wie der Frosch entsetzt von der Dame Stirn in den Brunnen hüpft, kriecht angstschlotternd der Froschkönig aus dem Loch. Mit den abgehauenen Händen verdeckt das Mädchen seine Augen, die nichts Entsetzliches sehen möchten. Und Rotkäppchens Großmutter liest allen, die hören wollen, aus dem Grimmschen Wörterbuch dem Unheil nahe Wörter vor: »Ungemach, Unhold, Ungeheuer, Unglück, Unmut...« aber auch: »unbekümmert, ungestüm, unverzagt...«
Vorerst steht nur Rübezahl mit seiner Keule zum Widerstand bereit. Jetzt auch das Tapfere Schneiderlein und der Standhafte Zinnsoldat. Von den Zwergen bedrängt, pissen etliche mindere Hexen in eilends gesammelte leere Flaschen, die von den Zwergen verkorkt werden. Des Mädchens abgehauene Hände üben technische Griffe.
Beiseite raten Schneewittchen und Rotkäppchen den Kanzlerkindern davonzulaufen: »Ihr solltet nach Hause gehn, Kinder, bevor es zu spät ist!« Aber Hänsel und Gretel weigern sich: »Wir gehören zu euch!«
Inzwischen zeigt der Zauberspiegel, daß die Räumdrachen die Autobahn verlassen haben. Sie nähern sich dem Wald, fallen über ihn her, fressen sich durch, speien hinter sich Kleinholz aus, zerkautes Moos, Wurzelhack. Aus der Kuppel des ersten Räumdrachens zeigt der wachküssende Prinz dem Kanzlergeneral der Notstandsregierung die Richtung. Küsse schickt er dorthin, wo er hinter Dornen sein schlafendes Dornröschen weiß.
Im Knusperhäuschen sind alle immer noch wütend über des verräterischen Prinzen Flucht. Rapunzel schämt sich. Die
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