Der Prophet des Teufels
Der Mann auf der Bühne ist eiskalt. Sein bleichgeschminktes, kantiges Gesicht, seine tiefliegenden schwarzen Augen und seine übergroßen, feinnervigen Hände beherrschen die Zuhörer. Er spricht klar und akzentuiert wie ein Schauspieler. Der Mann auf der Bühne ist maßvoll elegant und maßlos arrogant. Er vereinigt die Autorität eines Gymnasiallehrers mit der lauten Routine eines Marktschreiers. Das Publikum hält den Atem an. Es besteht größtenteils aus Frauen.
»Und nun komme ich zu Ihnen, gnädige Frau«, sagt »der Welt größter Hellseher«, sagt Erik Jan Hanussen zu einer überreifen Blondine. »Ich werde etwas aus Ihrem Leben erzählen.«
»Seien Sie nicht allzu indiskret«, erwidert die Dame lächelnd.
Sie lehnt sich zurück. Sie und der Hellseher sind für zwei Minuten der Mittelpunkt des Saales.
»Ihr erster Mann ist im Krieg umgekommen.«
»Das stimmt.«
»Ihr zweiter hat sich scheiden lassen.«
»Das stimmt auch.«
»Der dritte wurde von einem Automobil überfahren.«
Die Zuhörer im Saal lachen schallend.
»Es langt jetzt«, sagt die Blondine mit leiser Stimme.
»Ich bin noch nicht am Ende«, entgegnet Hanussen. »Der Mann, den Sie jetzt heiraten wollen, ist acht Jahre jünger als Sie.«
Wieder lachen die Leute.
»Er wird Sie aber gar nicht heiraten«, fährt der Hellseher fort. »Sie werden vielmehr einen Mann heiraten, der viel älter ist als Sie.« Hanussen lehnt sich zurück.
»Ich sehe ihn vor mir«, sagt er. Seine Hände zeichnen eine Figur in den Raum. »Er ist klein und etwas dick und hat einen sorgfältig gestutzten Bart. Nein, Sie kennen ihn noch nicht, gnädige Frau. Aber ich könnte Ihnen sagen, wie er heißt. Aber es pressiert ja wohl nicht so.«
Hanussen geht zwei Reihen weiter. Er bleibt vor einem älteren Herrn stehen.
»Sie sind Professor, nicht wahr?«
»Ja.«
»Für Mathematik?«
»Ja.«
»Stimmt es, daß Ihr Sohn wegen Mathematik in der Schule sitzengeblieben ist?«
»Ich möchte schon bitten«, erwidert der Herr leise. Aber sein rot angelaufenes Gesicht beweist, daß der Hellseher recht hat.
»Ich komme jetzt zu einer sehr ernsten Sache«, sagt Hanussen. »Am Gänsemarkt wurde vor sieben Tagen ein Bäckermeister ermordet. Niemand kennt den Täter. Die Polizei hat noch keine Spur. Es gibt zu viele Möglichkeiten und zu wenig Wahrscheinlichkeiten. Sie alle kennen diesen Fall, meine Damen und Herren. Gut. Ich werde ihn klären. Auf der Stelle. Ich werde Ihnen sagen, was die Polizei nicht gefunden hat. Sie werden morgen die Bestätigung in der Zeitung finden. Lassen Sie mir Zeit, mich zu konzentrieren.«
Der Saal erstarrt. Im gleichen Augenblick wird das Licht gedämpft. Ein violetter Scheinwerfer huscht über das Gesicht Hanussens. Die blasse Schminke und die lila Strahlen verleihen ihm etwas Gespenstisches. Der Magier fällt zusammen, richtet sich wieder auf. Sein Gesicht ist zerfurcht. Er keucht:
»Ich sehe den Mörder vor mir. Er ist jung, groß und blond. Ich sehe ihn jetzt ganz deutlich. Er heißt Walter. Er ist nicht weit weg von hier. Er ist aus der Stadt hinausgegangen. Ich sehe seinen Schatten … da … am … Bahndamm … Der Zug kommt … Ich sehe zwei Lichter … Sie nähern sich … Und da ist Walter … Am Bahndamm … Auf der Schiene.«
Hanussen schreit. »Es ist geschehen«, röchelt er dann, »der Zug hat ihn überfahren.«
Hanussens Gesicht glättet sich. Seine Stimme hat wieder ihren normalen Klang. Er ist wieder hochmütig und selbstsicher.
»Der Mörder ist tot. Sehen Sie bitte auf die Uhr, meine Damen und Herren. Es ist jetzt 21 Uhr 46. Vergleichen Sie bitte meine Schilderung mit dem Zeitungsbericht … Ich mache jetzt eine kleine Pause.«
Gibt es das? Gibt es Hellsehen? Oder arbeitet Hanussen mit raffinierten Tricks? Mit Agenten, Spionen, mit Claqueuren, mit gekauften Zuschauern? Aber selbst die Ruhigen, die Besonnenen, die Realisten sitzen wie gebannt vor dem Magier im Frack. Selbst ihnen läuft es kalt über den Rücken, wenn er nonchalant, mit kühler Ironie die Vergangenheit bloßstellt und die Zukunft weissagt.
Gibt es übersinnliche Mächte, zu denen nur ganz wenige Zugang finden? Und ist Hanussen der unerreichte Meister dieser wenigen? Gibt es einen Bereich des Übersinnlichen, vor dem unsere Schulweisheit kehrtmacht, wie die Katze vor dem Hund?
Die Zuschauer unterhalten sich leise auf den Gängen. Die Aufklärung des Mords ist die Sensation des Abends. Obwohl die Bestätigung für die Behauptung Hanussens noch
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