Die Rättin
ihm das Volk wie gelernt zulief. Zum Träumen auf Schaumgummi schön waren Sitzgarnituren gegen Ratenzahlungen zu haben. In allen Illustrierten heirateten fortgesetzt Prinzen Prinzessinnen. Unentwegt sank bei Capri die rote Sonne ins Meer.
Auf Bildern, die später Tapete wurden, erwies sich alles durchlebte Grauen als gegenstandslos. Die Politik jedoch, von der man genug hatte, blieb durch höhere Gewalt alten Männern übertragen, denen das geteilte Land mehr zufällig als hälftig zugeschnitten war.
Und siehe, den Greisen gelang es, die besiegten Deutschen zu mit den Siegern befreundeten Deutschen zu läutern, die sich, weil ihr eingeborener Fleiß den Krieg wunderbarerweise überstanden hatte, sogleich im einen, im anderen Siegerlager nützlich machten: Ruckzuck war man wieder wer, wiederbewaffnet. Deshalb dankte das Volk beiden Wohltätern, wenngleich es den Spitzbart, wie Ulbricht genannt wurde, haßte und den alten Fuchs Adenauer zwar wählte, aber nicht von Herzen so liebte, wie man als geeintes Volk während zurückliegender Jahre seinen Hitler herzlich geliebt hatte.
Gut fügte sich Malskat in diese Zeit. Seine Wandmalerei, die als echt galt, wurde »das Wunder von Lübeck« genannt; denn wenn sich ein Volk hartnäckig vom Unglück verfolgt sieht und
wie nebenbei anderen Völkern Unglück gebracht hat, dennoch mit so vielen Heiligen gotischer Machart beschenkt wird, dürfte ihm Gottes Gnade auch im profanen Bereich gewiß sein. Worauf sich weitere Wunder tätigten, unter anderem das Wirtschaftswunder, dessen Ausschüttungen schon Anfang der fünfziger Jahre spürbar waren: Die in der Stadt Bonn, wie es hieß, provisorisch ansässige Regierung blätterte hundertachtzigtausend Mark neues Geld auf den Tisch der Lübecker Kirchenleitung, so daß immer mehr Heilige sichtbar wurden und kein Fleiß ohne Preis der Maler Malskat seines Stundenlohnes von fünfundneunzig Pfennigen sicher sein konnte.
Das aber und noch andere Mirakel jucken meine Weihnachtsratte nicht. Der auf den Wundern von damals heute noch fußende Reichtum ist ihr nichtig. Sie könnte Geschenkt! rufen und vorausblickend sagen: Selbst der Schatten davon wird nicht bleiben. Aber sie huscht nur unruhig in ihrer Sägespanstreu und nimmt keinen Anteil an meinen Rückblenden. Was immer ihre schwarzpolierten Augen fassen, Malskat spiegeln sie nie.
Erst als ich später im toten Wald Hänsel und Gretel laufen ließ und sich die entlaufenen Kanzlerkinder nicht an mein Drehbuch halten wollten, sondern, weil im Wald nichts los war, zu den Punks, bei denen mehr los ist, überliefen, sagte meine Weihnachtsratte nunmehr als Rättin: Die beiden sind gut. Von gestern ist denen kein Krümel geblieben. Sieh nur, was sie bei sich tragen, mit wem sie zärtlich sind, in wessen Ohren sie flüstern, wessen nackte Schwänze sie kicherig machen und wen beide liebhaben, auf daß sie mit Haut und Haaren geliebt werden, wem einzig Hänsel und Gretel zutraulich sind... Und ich sah, daß des Kanzlers und seiner Gattin entlaufene Kinder zwei Ratten an sich trugen. Die mochten einst weißhaarig und Laborratten gewesen sein. Jetzt aber war die eine zinkgrün, die andere violett gefärbt; wie Hänsels Irokesenhaartracht zinkgrün und Gretels viele steif stehenden Zöpfe violett leuchteten. Es sah aus, als wären die Kinder eins mit ihrem Getier.
Zwar versuchte ich, beide wieder in den toten Wald und ohne tierische Zutat in den Ablauf meines Drehbuches zu schicken, aber sie pfiffen auf dessen Moral. Mit ihren grellen Ratten wollten sie grell nur noch Punker zwischen Punks sein. Immer mehr drängten ins Bild, bis es randvoll war: ein Auflauf. Alle Punks hatten sich eigensinnig und doch uniform mit Schrott behängt; nun auch Hänsel und Gretel, so daß sie sich kaum von den anderen unterschieden. Vorhängeschlösser und extra große Sicherheitsnadeln hielten ihren Plunder zusammen. Ich zählte die Gruppe aus, und im Traum half mir die Rättin beim Zählen. Hundertdreißig Punks und genau so viele Ratten zählten wir.
Das muß ich, rief ich, unserem Herrn Matzerath erzählen, daß Hänsel und Gretel, die auffallend den entlaufenen Kindern des Kanzlers und seiner Gattin gleichen, nun stilechte Punks sind, die in Berlin-Kreuzberg hausen und der Welt Grimassen schneiden, damit sie an ihrem Zerrbild erschrickt. Ein verzweifelt lustiger Haufen ist das. Denen kann man nicht mehr gut zureden. Die haben sich alle mit ihren Ratten in eines der letzten besetzten Häuser verkrochen. Das ist ein
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