Die Rättin
Hinterhaus mit vernagelten Fenstern.
Sieh nur, Rättin, rief ich: wie typisch, daß Gretel in der Gruppe das Sagen hat und ihren Hänsel und die anderen machen läßt, was sie will. Er sagt: Wenn die kommen mit ihrer Ramme, sind wir geliefert glatt. Doch sie sagt: Wenn die uns räumen, verzischen wir uns nach Hameln hoch und kriechen in den Berg, wie damals, als es so schlimm war wie jetzt. Und Hänsel ruft: Guckt sie euch an, diese Normalos. Die schnallen überhaupt nicht, wie tot sie sind!
Da sagte die Rättin, von der mir träumt: Die Kinder schrien, doch niemand wollte hören. Deshalb sagten wir Rattenvölker vorsorglich: Wir werden uns eingraben müssen. Schade um die Menschen. Besonders schade um die mit uns zärtlichen Punks.
Plötzlich nimmt unser Herr Matzerath Interesse. Gestern noch abweisend, ist er heute Hänsel und Gretel gewogen. Vor der Breitwandschiefertafel zwischen den Gummibäumen sagt er: »Abgesehen vom Wald gefällt mir ihre Geschichte. Man müßte sie zuspitzen. Sollten wir uns zur Produktion entschließen, könnte der Film etwa so beginnen: Während überall die Ratten aus ihren Löchern kommen, um am hellichten Tag öffentlich zu werden, ziehen auch in der geteilten Stadt Berlin alle beiderseits der Mauer getrennt ansässigen Rattenvölker zur selben Stunde über die Hauptstraßen; wenn sie drüben die Frankfurter Allee für geeignet halten, ist ihnen hier der Kurfürstendamm, von der Gedächtniskirche bis hoch nach Halensee, lang genug.
So bringen sie sich ins Bild. Sofort bricht in beiden Stadthälften punktuell der Verkehr zusammen. Massenkarambolagen sind die Folge. In ihren verkeilten Autos verschiedenen Typs erleben verschreckte Insassen, wie ungezählt viele Ratten in beide Fahrtrichtungen über alle zum Stillstand gezwungenen Autos hinwegeilen, ob Wartburg oder Opel, Tatra oder Ford. Niemand, kein Passant oder Autofahrer begreift den tieferen Sinn der unangekündigten Demonstration. Was man im Ostteil der Stadt als dem Sozialismus abträglich empfindet und deshalb wie eine Schande verschweigt, bekommt im Westen den kurzlebigen Wert einer Sensation zugesprochen. Halblaut heißt es hier wie dort: Die kommen von drüben.
Doch sobald Meldungen über den Ticker laufen und Rattenumzüge aus aller Welt bestätigen in Moskau und Washington auch! und der weltweite Zeitvergleich den Beweis bringt, daß das Rattengeschlecht rund um die Erdkugel an drei Tagen nacheinander pünktlich seinen Auftritt gehabt hat und zwar allerorts nachmittags um halbfünf -, als daraufhin niemand mehr wagt, von Zufällen zu faseln und selbst führende Politiker keine Worte finden, geeignet, ihre vom Ekel geschüttelten Staatsvölker zu beschwichtigen und deshalb schweigen, grinsend schweigen, erst als die Flut verebbt ist, liest man Kommentare, die dem Sinn der weltweiten Rattenumzüge nahekommen; wenngleich die aufklärende Absicht der Ratten unbedacht bleibt.
Tierforscher sprechen vom hochentwickelten Warnsystem der Nagetiere. Verhaltensforschern wird das Wort Paniksyndrom geläufig. Theologen rufen die Christenheit auf, Gottes warnenden Hinweis, kundgetan durch die niedrigste Kreatur, ernst zu nehmen und fortan Kraft einzig im Glauben zu suchen. Ein unerklärliches Phänomen, heißt es. Und im Feuilleton werden die Offenbarung Johannes, Nostradamus, Kafka, Camus und die indischen Weden zitiert. Mehr geschieht nicht. Einige Westberliner Zeitungen kommen wie üblich zur Sache. Sie sprechen die Kreuzberger Punks schuldig: Die hätten mit ihrem Rattenfimmel das Übel ausgelöst. Seitdem man Punks mit Ratten rumlaufen sehe, sei dieses Viehzeug groß in Mode. Es komme als Normalempfinden nicht mehr genügend Ekel auf. Jetzt müsse hart, endlich hart durchgegriffen werden.
Nur einige von Kindern geschriebene Leserbriefe sprechen wahr: Ich glaube, die Ratten haben Angst, weil die Menschen nicht genug Angst haben. Ich nehme an, daß die Ratten, bevor alles zu Ende geht, von uns Menschen Abschied nehmen wollen. Meine kleine Schwester, die die Rattenumzüge im Fernsehen gesehen hat, sagt: Zuerst hat uns der liebe Gott verlassen, und jetzt hauen auch noch die Ratten ab. Doch dann wird wieder anderes wichtig: der sprunghaft steigende Dollarkurs, Unruhen in Bangla Desh, ein Erdbeben in der Türkei und sowjetische Weizenkäufe; von einer Rattenflut, liest es sich rückblickend, hatte die Welt nur schlecht geträumt.«
So jedenfalls sieht es unser Herr Matzerath. Er springt auf und steht kleinwüchsig vor der enormen
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