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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Versorgungsschächte der Hochhäuser und unsere sonstigen Reviere. Am hellen Tag, wie gegen unsere Natur, liefen wir über die Hauptstraßen aller europäischen Metropolen: Heerhaufen flüchtiger Rattenvölker, eine nicht einzudämmende Rattenflut. Dann steigerten wir unser Programm. Nicht einmal nur, mehrmals am Tag über die Gorkistraße zum Roten Platz. In Washington liefen wir dreimal ums Weiße Haus, in London sternförmig auf Trafalgar Square zu. Zwei gegenläufige Rattenströme blockierten die Champs-Élysées. So trugen wir dem Menschengeschlecht unsere Sorge zur Schau. Da das Humane an Bilder glaubte, setzten wir uns erschreckend ins Bild. Prachtstraßen und Avenuen rauf und runter. Jeder Rücken, die Schwänze gestreckt. Wir wollten den Menschen bedeuten: Seht, wie wir Angst haben! Auch uns ist bewußt, daß dieser Welt Dämmerung bevorsteht. Wie ihr kennen wir einschlägige Bibelstellen. Unsere von letzten Ängsten bewegte Flucht sagte: Hört auf, ihr Menschen, euch zu Ende zu denken. Macht Schluß mit dem Schlußmachen. Unübersehbar erfüllt sich der Sprüche Weisheit...
Ich tat erstaunt: Und? Das gab doch Panik, was? Ein einziger Aufschrei oder? Als wollte ich nachholen, was die Menschheit versäumt hatte: Wenn ich mir vorstelle, nachmittags, bei Berufsverkehr. Und die Hausfrauen mit ihren Einkaufstaschen ...
Was die Rättin sagte, klang müde und noch im Rückblick enttäuscht: Zwar hörten wir Schreie entsetzter Passanten, die unsere demonstrierte Massenflucht vielleicht sogar richtig deuteten, zwar brach in den Zentren der Städte sofort der Verkehr zusammen, zwar waren alle Fensterfronten der Hauptstraßen von Gaffern besetzt, doch sonst geschah nichts, außer daß man uns, wie wir bildkräftig über die Seinebrücken, immer wieder am Buckingham Palace vorbei, um Genfs hohes Wasserspiel flüchteten, aufwendig fürs Fernsehen filmte. Schon machten Touristen Schnappschüsse. Da unsere schnellfüßigen Demonstrationen oft Stunden anhielten, boten wir Motive genug. Aber, rief ich, hat man denn nicht. Ich meine Gegenmaßnahmen. Zumindest mit Wasserwerfern. Oder von Hubschraubern aus. Oder ganz einfach...
Jaja, sagte die Rättin, natürlich fiel ihnen zu allererst Gift ein. Doch nur in wenigen Großstädten wurde versucht, unser massiertes Auftreten mit Vernichtungsmitteln zu bekämpfen, in Rom sogar mit Flammenwerfern: sich rasch ausbreitende Großfeuer längs der Via Veneto waren die Folge. Verluste an Menschenleben wogen unsere Ausfälle auf. Wie dumm sie bis zum Schluß auf Gewalt gesetzt haben. Einzig in Peking, Hongkong und Singapur, wo die chinesische Spielart des Humanen vorherrschte, in Neu Delhi und Kalkutta, wo wir schon immer, wenn nicht geheiligt, so doch geachtet waren, wurden unsere bewegten Warnbilder als Appell begriffen; doch die Zentralcomputer waren anderswo lokalisiert. Mir fiel nichts Besseres ein, als Schade, wie schade! zu sagen. Dabei habt ihr euch Mühe, verdammt viel Mühe gegeben. Kein Risiko, Rättin, habt ihr gescheut.
Erst jetzt, sagte sie, nach so viel Vergeblichkeit begannen wir Ratten uns einzugraben.
Das war falsch! rief ich. Oder zu früh. Jedenfalls hättet ihr nochmal und nochmal...
Haben wir, tagelang...
Nein! rief ich. Aufgegeben habt ihr uns Menschen. Und zwar viel zu früh...
Noch einmal, als wollte sie sich und mir vergebliche Mühe bestätigen, sah ich auf dem Monitor meiner Raumkapsel in rascher Bildfolge mit Ratten zärtliche Punks, viele hundert Punker mit ihren Ratten in Richtung Hameln unterwegs, Mahnblitze in Menschenblöcken gezündet, danach die kreisund gegenläufige Rattenflut. Dann aber sah ich, wie sie sich eingruben. Keilen gleich trieben sie Erdreich auf. Tausend und mehr Löcher spieen Sand, Kies, Mergel. Anfangs ihre Schwänze noch übertage, dann wie vom Boden verschluckt. Überall gleichzeitig. So viele endgültige Bilder, Bildsalat schließlich, in den sich immer wieder, doch tonlos und untertage nun, die Rättin mischte. Dann sah ich unseren Herrn Matzerath, wie er zur Rede ansetzte, darauf des Kanzlers Kinder als Hänsel und Gretel im toten Wald laufen, sogleich die Rättin wieder, nein, meine Weihnachtsratte, die eingerollt schlief oder harmlos tat, worauf der Maler Malskat für wundersam gotische Bilder Farbe anrührte, bis plötzlich mit anderen Frauen strickend Damroka die quallengesättigte See befuhr und die Ratte sich immer tiefer und die Kinder im Wald, der leichenstarr... Erlösend, daß unser Herr Matzerath endlich seinen Antrag

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