Die Räuberbraut
zu den Mustern, von denen sie annimmt, daß sie sie einst ergaben.
Wen interessiert das? So gut wie niemanden. Vielleicht ist es einfach nur ein Hobby, eine Beschäftigung für einen langweiligen Tag. Oder aber eine Herausforderung: diese Geschichten mögen zerlumpt und zerschlissen sein, zusammengestückelt aus wertlosen Resten, aber für sie sind sie auch Flaggen, die mit einer gewissen Verwegenheit gehißt werden und tapfer, wenn auch ohne große Bedeutung vor sich hin wehen, so daß man sie hier und da hinter den Bäumen erblickt, auf den Bergstraßen, zwischen den Ruinen, auf dem langen Marsch ins Chaos.
Tony sitzt mitten in der Nacht unten im Keller, weil ihr nicht nach Schlaf zumute ist. Sie trägt ihren Bademantel und ihre wollenen Arbeitssocken und ihre Waschbärenpantoffeln, die inzwischen ziemlich verschlissen sind. Einer von ihnen hat den Schwanz verloren, und zusammengenommen haben sie jetzt nur noch ein einziges Auge. Tony hat sich daran gewöhnt, Augen an den Füßen zu haben, wie die Augen, die die alten Ägypter an den Bug ihrer Boote malten. Sie gewähren eine zusätzliche Orientierung – eine zusätzliche spirituelle Orientierung, könnte man sagen –, etwas, von dem Tony inzwischen glaubt, daß sie es braucht. Wenn die Pantoffeln endgültig den Geist aufgeben, wird sie sich andere kaufen, die auch Augen haben. Es gibt eine ganze Palette von Tieren: Schweine, Bären, Kaninchen, Wölfe. Sie denkt, sie wird die Wölfe nehmen.
Ihre Sandkastenkarte von Europa wurde in der Zwischenzeit umgeordnet. Sie zeigt jetzt das zweite Jahrzehnt des dreizehnten Jahrhunderts, und das, was später Frankreich sein wird, ist von Religionskriegen zerrissen. Inzwischen sind es nicht mehr die Christen gegen die Moslems: es sind die Katholiken gegen die Katharer. Die dualistischen Katharer glaubten, daß die Welt zwischen den Kräften von Gut und Böse geteilt war, zwischen dem Spirituellen und dem Materiellen, zwischen Gott und dem Teufel; sie glaubten an Wiedergeburt und hatten weibliche Religionslehrer. Während die Katholiken die Wiedergeburt ablehnten, Frauen für unrein hielten und ihrer Logik zufolge die Ansicht vertraten, daß, wenn Gott per definitionem allmächtig war, das Böse letztendlich eine Illusion sein mußte. Eine Meinungsverschiedenheit, die viele Leben kostete. Aber es ging auch um mehr als nur die Theologie, so zum Beispiel darum, wer die Handelsrouten und die Olivenernten kontrollieren würde, und die Frauen, die allmählich außer Rand und Band gerieten.
Carcassonne, Festung des Languedoc und der Katharer, ist nach fünfzehntägiger Belagerung und dem Versiegen der Wasservorräte soeben in die Hände des blutrünstigen Simon de Montfort und seiner brutalen Armee kreuzzüglerischer Katholiken gefallen. Ein ausgedehntes Morden folgte. Tonys Hauptinteresse gilt jedoch nicht Carcassonne, sondern Lavaur, das als nächstes angegriffen wurde. Unter der Führung der Burgherrin, Dame Giraude, leistete es sechzig Tage Widerstand. Als die Stadt sich schließlich doch ergeben mußte, wurden achtzig Ritter wie Schweine abgeschlachtet, vierhundert katharische Verteidiger bei lebendigem Leibe verbrannt, und Dame Giraude wurde von Montforts Soldaten in einen Brunnen geworfen und mit einem Berg von Steinen zugeschüttet, damit sie auch ja unten blieb. Im Krieg macht Großmut sich einen Namen, denkt Tony, weil es so wenig davon gibt.
Tony hat sich den 2.Mai 1211 ausgesucht, den Tag vor dem Massaker. Die belagernden Katholiken werden durch Kidneybohnen dargestellt, die belagerten Katharer durch weiße Reiskörner. Simon de Montfort ist ein Monopoly-Männchen aus rotem Plastik, Dame Giraude ist blau. Rot für das Kreuz, blau für die Katharer: es war ihre Farbe. Tony hat bereits mehrere der Kidneybohnen gegessen, was sie eigentlich erst nach der Schlacht hätte tun dürfen. Aber das Knabbern hilft ihr, sich zu konzentrieren.
Was ging Dame Giraude durch den Kopf, als sie über die Zinnen blickte und den Feind einzuschätzen suchte? Sie muß gewußt haben, daß diese Schlacht nicht zu gewinnen war, daß ihre Stadt und ihre Bewohner dem Untergang geweiht waren. Verzweifelte sie, betete sie um ein Wunder, war sie stolz auf sich selbst, weil sie für das gekämpft hatte, woran sie glaubte? Als sie am nächsten Tag zusah, wie ihre Mitgläubigen gebraten wurden, muß sie gefühlt haben, daß es mehr Beweise für ihre eigene Theorie des Bösen gab als für die Theorie Montforts.
Tony ist dagewesen, sie hat das
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