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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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gekommen?«
    »Ich glaub, sie hat die Reling getroffen«, sagt Tony.
    »Nein«, sagt Charis mit ehrfürchtiger Stimme. »Sie ist von selbst zersprungen. Sie war es.« Wesen können derartige Dinge verursachen ; sie können Gegenstände beeinflussen; sie tun es, um auf sich aufmerksam zu machen.
    Nichts, was Roz oder Tony sagen könnten, wird Charis’ Meinung ändern, also sagen sie nichts. Charis selbst fühlt sich seltsam getröstet. Es gefällt ihr, daß Zenia am Zerstreuen ihrer eigenen Asche teilgenommen hat, daß sie ihre Anwesenheit bekanntgemacht hat. Es ist ein Zeichen für ihr Fortbestehen. Zenia wird jetzt frei sein, um wiedergeboren zu werden und eine neue Lebenschance zu bekommen. Vielleicht wird sie das nächste Mal mehr Glück haben. Charis versucht, ihr alles Gute zu wünschen.
    Trotzdem zittert sie. Sie nimmt die Hände, die ihr rechts und links hingestreckt werden, und hält sie ganz fest, und auf diese Weise gleiten sie an die Anlegestelle der Insel. Drei Frauen in mittleren Jahren, in dunklen Mänteln; Frauen in Trauer, denkt Tony. Diese Schleier hatten einen Zweck – diese altmodischen Schleier, dicht und schwarz. Niemand konnte sehen, was man dahinter tat. Man hätte sich schieflachen können. Aber das tut sie nicht.
     
    Keine Blumen wachsen in den Furchen des Sees, keine auf den Feldern aus Asphalt. Tony braucht trotzdem eine Blume. Ein gewöhnliches Kraut, denn wo immer Zenia in ihrem Leben gewesen sein mag, sie war auch im Krieg. Einem inoffiziellen Krieg, einem Guerillakrieg, einem Krieg, von dem sie vielleicht nicht einmal wußte, daß sie ihn führte, aber es war trotzdem ein Krieg.
    Wer war der Feind? Welches vergangene Unrecht wollte sie rächen? Wo war ihr Schlachtfeld? Nicht an einem bestimmten Ort. Es war in der Luft, es war in der Textur der Welt selbst; oder aber an keinem sichtbaren Ort, sondern zwischen den Neuronen, den winzigen, weißglühenden Feuern des Gehirns, die aufflackern und verglühen. Eine elektrische Blume wäre die richtige Blume für Zenia, eine helle, tödliche Blume, wie ein Kurzschluß, eine Distel aus geschmolzenem Stahl, die sich in einem Funkenregen verstreut.
    Alles, was Tony tun kann, ist ein Zweig Wilde Möhre aus Charis’ Garten, schon trocken und spröde. Sie pflückt ihn heimlich, als die anderen durch die Hintertür ins Haus gehen. Sie wird ihn mit nach Hause nehmen und so flach wie möglich pressen und in ihr Album kleben, ganz hinten hin, hinter Tallinn, hinter Valley Forge, hinter Ypern, weil sie sentimental ist, was tote Menschen angeht, und weil Zenia tot ist, und obwohl sie viele andere Dinge war, war sie auch mutig. Auf welcher Seite sie stand, spielt keine Rolle, nicht für Tony, nicht in diesem Augenblick. Vielleicht gab es nicht einmal eine Seite. Vielleicht stand sie ganz allein.
    Tony sieht zu Zenia hinauf, in die Enge getrieben, mit ihrem versagenden Zauber, auf dem Balkon, auf der gefährlichen Kante balancierend, ihre Trickkiste endgültig leer. Zenia starrt zurück. Sie weiß, daß sie verloren hat, aber was immer ihr Geheimnis war, sie verrät es selbst jetzt nicht. Sie ist wie eine alte Statuette, die aus einem minoischen Palast ausgegraben wurde; da sind die großen Brüste, die schmale Taille, die dunklen Augen, die schlangenartigen Haare. Tony nimmt sie in die Hand und dreht sie hin und her, forscht und befragt, aber die Frau mit dem glasierten Keramikgesicht lächelt nur.
    Aus der Küche hört sie Gelächter und das Klappern von Geschirr. Charis stellt das Essen auf den Tisch, Roz erzählt eine Geschichte. Das werden sie von jetzt an immer häufiger tun: essen, Geschichten erzählen. Heute abend werden ihre Geschichten von Zenia handeln.
    War sie auf irgendeine Weise wie wir? denkt Tony. Oder, anders herum: Sind wir auf irgendeine Weise wie sie?
    Dann öffnet sie die Tür und geht zu den anderen hinein.
     
     
     
     

     
     

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