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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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den Tag ausgesucht, Charis den Behälter, und deshalb wird Roz für den Text zuständig sein.
    Das Komische ist, daß sie tatsächlich traurig ist. Das soll einer verstehen! Zenia war ein Tumor, aber sie war auch ein wesentlicher Teil von Roz’ Leben, und dieses Leben hat seinen Höhepunkt überschritten. Nicht bald, aber schneller, als es ihr lieb ist, wird sie anfangen, wie die Sonne zu sinken, zu schwinden. Wenn Zenia in den See wandert, wird auch Mitch endgültig verschwinden; sie wird endgültig eine Witwe sein. Nein. Sie wird mehr sein, etwas, was darüber hinausgeht. Was? Sie wird es schon merken. Aber sie wird ihren Ehering ablegen, weil Charis sagt, daß er die linke Hand behindert, und das ist die Hand, auf die Roz sich – von jetzt an – verlassen muß.
    Sie fühlt auch noch etwas anderes für Zenia, etwas, von dem sie nie geglaubt hätte, daß sie es fühlen würde. Seltsamerweise ist es Dankbarkeit. Wofür? Wer weiß? Aber genau das ist es, was sie fühlt.
     
    »Soll ich sie auskippen, oder soll ich die ganze Vase ins Wasser werfen?« sagt Charis. Sie hat den heimlichen Wunsch, die Vase zu behalten: sie besitzt eine starke Energie.
    »Was würdest du denn damit machen wollen?« sagt Tony und sieht sie streng an, und nach einem kurzem Augenblick – in dem Charis sich die Vase voller Blumen vorstellt, oder leer auf einem Regal, in beiden Fällen umgeben von einem kummervollen roten Licht – sagt Charis: »Du hast recht.« Es wäre ein Fehler, die Vase zu behalten, sie würde Zenia an die Erde binden; sie hat schon einmal erlebt, was für Folgen das hat, sie will keine Wiederholung. Bloß das Fehlen eines Körpers würde Zenia nicht aufhalten; sie würde sich einfach einen anderen nehmen. Die Toten kehren in anderer Form zurück, denkt sie, weil wir wollen, daß sie es tun.
     
    »Also – über Bord!« sagt Roz. »Der letzte, der reinspringt, ist ein Stinker!« Woran zum Teufel denkt sie? Kaltes Wasser! Sommercamp! Was ist denn das wieder für ein komischer Humor. Geschmacklos ist es. Wieviel Zeit ihres Lebens will sie denn noch damit verbringen, eine Schau abzuziehen, billige Lacher aus den Leuten herauszukitzeln? Wie alt muß man denn werden, bis die Weisheit sich wie eine Plastiktüte über den Kopf senkt und man lernt, seine große Klappe zu halten? Vielleicht lernt man es nie. Vielleicht wird man mit zunehmendem Alter nur noch frivoler. Ihre Augen, ihre glitzernden Augen sind froh.
    Aber das hier ist der Tod, und der Tod ist nun einmal der Tod, mit großem T, egal um wen es geht, also werd gefälligst nüchtern, Roz. Aber sie ist nüchtern, es ist nur die Art, wie die Worte aus ihr herauskommen. Beiß dir auf die Zunge, Roz . Gott, ich hab es nicht so gemeint. Aber ich bin nun einmal so.
     
    Tony sieht Roz entnervt an. Sie selbst würde sich ein paar Salutschüsse wünschen. Einen rituellen Kanonenschuß, eine Flagge, die auf halbmast gesetzt wird, einen einzigen Ton aus einem Horn, der in der silbrigen Luft zittert. Andere tote Kämpfer bekommen so etwas, wieso nicht Zenia? Sie denkt an feierliche Augenblicke, an Schlachtfeldvignetten: der Held steht auf sein Schwert oder seinen Speer oder seine Muskete gestützt und blickt mit edlem und philosophischem Kummer auf seinen eben getöteten Gegner hinunter. Der ihm natürlich ebenbürtig ist, versteht sich. Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund.
    Alles schön und gut, in der Kunst. In wirklichen Schlachten läuft es eher auf ein schnelles Durchsuchen der Uhrtasche hinaus, und auf das Abschneiden der Ohren als Souvenir. Alte Fotos von Jägern, die einen Fuß auf den Kadaver des Bären gesetzt haben und mit dem traurigen, abgesäbelten, räuberischen, gefräßigen Kopf herumalbern. Reduzierung des geheiligten Feindes auf einen Bettvorleger, und alle Gemälde und alle Gedichte sind nur eine Art dekorativer Vorhang, der den hämischen Diskurs verbergen soll, welcher dahinter abläuft.
    »Okay«, sagt sie zu Charis, und Charis stößt beide Arme und beide Hände und die Blumenvase von ihrem Körper weg, über die Reling, und dann ist ein lautes Knacken zu hören, und die Vase zerspringt in zwei Teile. Charis stößt einen leisen Schrei aus und reißt ihre Hände zurück, als hätte sie sich verbrannt. Sie betrachtet sie: sie haben eine leicht blaue Färbung, ein Flackern. Die Teile der Vase klatschen ins Wasser, und Zenia treibt in einer langen, wabernden Linie davon, wie Rauch.
    »Heiliger Strohsack«, sagt Roz. »Wie ist das

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