Die Rebellin
Staunen, dass Glas und Stahl so lichterloh brannten wie Heu oder Stroh, während in Hillside Road ein Händler Feldstecher auslieh, für zwei Pence die Minute. Sogar noch in Brighton eilten die Einwohner, alarmiert durch eine Radiodurchsage der BBC, hinauf zum Devil’s Dike, um die Feuersbrunst aus fünfzig Meilen Entfernung anzuschauen. Und ein einsamer Postflieger, der um Mitternacht mit seiner Maschine den Ärmelkanal überquerte, glaubte beim Anblick des gewaltigen rötlichen Widerscheins am Himmel, die Hauptstadt selbst sei in Flammen aufgegangen, zum zweiten Mal in ihrer Geschichte.
Sir Henry Buckland blieb die ganze Nacht über vor Ort, um das Unglück zu bezeugen, wie ein geschlagener General, der das Schlachtfeld erst verlässt, wenn der letzte seiner Männer gefallen ist. Als der Morgen des ersten Dezembers endlich graute, lag der Ort in Schutt und Asche vor ihm da, nur hier und dort züngelte noch eine Flamme aus der Ruine hervor. Von dem Kristallpalast aber war nur noch ein Torso übriggeblieben, eine Reihe grotesk verdrehter Eisenträger, die einsam in den Himmel ragten oder, abgeknickt von der Last ihres eigenen Gewichts, mit ihren stählernen Armen im Wind schwangen, als wollten sie die verrußten Statuen und Bronzenymphen segnen, die draußen auf der Terrasse das Inferno überlebt hatten, stumme Hüter des Entsetzens.
Noch einmal ließ Sir Henry seinen Blick über die Verwüstung schweifen, die Augen voller Tränen. Alles hatte der Brand vernichtet. Nur der gläserne Brunnen in der Mitte des Transepts war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, sogar ein paar Goldfische schwammen noch in seinem Becken, obwohl das Wasser darin gekocht haben musste. Mit versteinerter Miene und gebrochenem Herzen nahm Sir Henry den Bericht des Feuerwehrhauptmanns entgegen: Kein Anschlag oder Attentat, vor denen man sich immer wieder gefürchtet hatte, seit der Bau errichtet worden war, hatte den Koloss bezwungen, sondern ein brüchiges Kabel, das, tief verwurzelt im viel zu alten Leib des Gebäudes, sich von allein entzündet hatte. Die Zerstörung seiner selbst hatte dem gläsernen Riesen innegewohnt, von allem Anfang an.
Mit einem Seufzer wandte Sir Henry sich ab. Ja, der Fluch, den Colonel Sibthorp einst zum Himmel sandte, vor fünfundachtzig Jahren, er hatte sich doch noch erfüllt. Der Kristallpalast, der den Traum eines Jahrhunderts verkörpert hatte, den Traum vom irdischen Paradies, den die kühnsten Männer ihrer Zeit unter Aufbietung all ihrer Phantasie und Ingenieurskunst hier hatten verwirklichen wollen, war nur noch eine Erinnerung. Die ganze Welt an einem Ort – in den Flammen war sie aufgegangen, wie die wirkliche Welt wenige Jahre später in Flammen aufgehen sollte, in dem großen Weltenbrand des Krieges, von dem die Feuersbrunst von London nur ein Vorbote war.
Noch am selben Tag berichteten die Zeitungen, dass deutsche Truppen in Spanien gelandet seien.
»Simul omnes collacrimabunt«
, schrieb die
Times
, »gemeinsam werden sie ihre Tränen vergießen.«
Dichtung und Wahrheit
Dieser Roman erzählt die Geschichte des Kristallpalasts, jenes berühmten Tempels des Fortschritts, in dem das ganze 19. Jahrhundert sein Sinnbild fand. Zugleich erzählt er die Geschichte eines Attentats, das sich so nie ereignet hat, doch von dem viele Zeitgenossen der ersten Weltausstellung fürchteten, dass es sich hätte ereignen können: die ausgebliebene Katastrophe, die erst in unserer Zeit zum Ausbruch kam, im Zweiten Weltkrieg, in dem sich all die aufgestauten Konflikte und Widersprüche des 19. Jahrhunderts entluden.
Von der Hauptfigur des Romans, »Miss Emily Paxton«, wissen wir heute kaum mehr, als dass es sie gegeben hat. Das eröffnete mir die Freiheit, ihr individuelles Schicksal mit den großen geschichtlichen Ereignissen zu verknüpfen, in einem Wechselspiel von Imagination und historischer Rekonstruktion. Aus ihrer Perspektive habe ich versucht, den Kosmos jener »Weltenbauer« zu erschließen, die mit ihrem Optimismus und Tatendrang den vielleicht kühnsten Traum ihrer Zeit träumten, doch blind waren für die Gefahren, die ihrem Fortschrittsglauben innewohnten.
Folgende Ereignisse, die im Roman zur Sprache kommen, gelten in der Forschung als gesichert:
1803: Joseph Paxton wird als siebtes Kind des Pachtbauern William Paxton in Milton-Bryons, Bedfordshire, geboren.
1808: Geburt Henry Coles als Sohn eines Offiziers in Bath.
1826: Paxton tritt als Landschaftsgärtner in den Dienst des Herzogs
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