Die Rebellin
einer umzäunten Terrasse, von der aus man einen freien Blick auf das Meer hatte. Suchend ließ sie ihre Augen über die grauen Wassermassen schweifen. Es hatte fast aufgehört zu regnen, und in der Ferne lichteten sich bereits die ersten Wolken.
Da sah sie die
Fortune
. Mit geblähten Segeln passierte sie den Sund zwischen zwei Inseln und steuerte auf die offene See zu. Emily hielt sich die Hand über die Augen, um besser zu sehen. Am Heck stand ein Mann, so klein wie eine Puppe. Er trug eine Mütze auf dem Kopf. War es Victor oder irgendein anderer Passagier?
Emily nahm ihren Hut ab und schwenkte ihn in der Luft. »Ich liebe dich!«, rief sie über das Meer. »Warte auf mich!«
Hatte er sie gesehen? Der Mann auf der
Fortune
ließ die Relinglos, er sprang in die Höhe und winkte mit beiden Armen zurück. Dann wandte er sich plötzlich ab und verschwand hinter den Schiffsaufbauten. Doch nur wenige Sekunden später kehrte er wieder zurück, zusammen mit einem Matrosen, der zwei Flaggen senkrecht in die Höhe hob, um dann in schneller Folge Signale zu senden.
»Das ist ja richtig rührend«, sagte eine Stimme ganz in der Nähe. Emily blickte zur Seite. Auf einer Bank saß ein alter Fischer und rauchte seine Pfeife.
»Können Sie die Signale lesen?«
»Sicher kann ich das«, sagte er und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Er antwortet Ihnen.«
Emily biss sich auf die Lippe. »Und – was sagt er?«
»Augenblick, Miss.« Der alte Fischer stand auf und schaute mit seinen blauen Augen über das Meer. »Er sagt: ›Ich warte auf dich … Solange ich lebe …‹«
Wie durch einen Schleier sah Emily das Schiff. War es der Regen, oder waren es ihre Tränen, die sie nicht länger zurückhalten konnte? Der Signalgast senkte die Flaggen und verschwand von Deck, doch Victor winkte ihr immer noch zu. Obwohl es unmöglich war, glaubte sie sein Gesicht zu erkennen, seine kräftigen Wangenknochen, seine dunklen, sanften Augen, die wie in einem Traum verloren schienen. Sie hatte alle Adressen, die ihr Vater ihm gegeben hatte, und es gab Schiffe, die von Rio de Janeiro direkt nach Sydney fuhren, um das Kap der Guten Hoffnung herum.
»Ja, Victor, warte auf mich …«, flüsterte sie. »Die Welt ist nicht groß genug, dass wir uns darin verlieren können …«
Plötzlich, die
Fortune
hatte gerade die zwei Inseln hinter sich gelassen, riss die Wolkendecke auf. Mit gleißendem Licht erbrach sich die Sonne ins Meer, glitzernd und funkelnd, ein riesiger Kristall, der sich wie ein Palast in der unendlichen Weite erhob.
EPILOG
Der Weltenbrand
1936
Man schrieb den dreißigsten November des Jahres 1936. Die letzten Strahlen einer blassen Wintersonne streiften die Hügel von Sydenham, und noch einmal erglühte die Kuppel des Kristallpalasts wie der Kohinoor-Diamant, jener sagenumwobene »Berg des Lichts«, den der Pavillon einst in seinem Innern geborgen hatte. Noch immer erhob sich der gewaltige Glasleib voller Majestät in den Himmel, als wolle er die ganze Welt in sich aufnehmen. Doch welche Stille umgab nun den alten, riesigen Koloss. Längst hatte sich der bunte Strom der Gäste verlaufen, kein Fahren und Rennen mehr auf den Wegen, kein Schieben und Drängen mehr an den Toren. Gähnend vor Langeweile hielt ein einziger Konstabler nutzlose Wache, und an den Gittern lagerten zerlumpte Stadtstreicher, während die Sonne endgültig am Himmel unterging und nächtliche Dunkelheit sich über das verrostete Skelett mit den halb erblindeten Scheiben legte.
Der Mond lugte schon zwischen den Wolken hervor, als Sir Henry Buckland, Generaldirektor der Kristallpalast-Gesellschaft, gegen halb acht an diesem Abend sein Nachtmahl beendete und noch einmal seine Wohnung in Penge Hill verließ, um einen Brief einzuwerfen. Wie immer, wenn er die Straße betrat, schaute er voller Wohlgefallen auf das erhabene Gebäude, dessen Führung ihm unterstand und an dessen Entstehung vor fünfundachtzig Jahren bereits sein eigener Großvater, ein Glaser namens Harry Plummer, mitgewirkt hatte. Die Stimmen eines Orchesters wehten leise zu ihm herüber, als er sich dem dunklen Pavillon näherte. Offenbar probten die Musiker noch für die Eröffnung der Nationalen Katzenausstellung, die am nächstenMorgen im Transept stattfinden sollte. Sir Henry blieb stehen, um der Melodie zu lauschen, er glaubte, das vertraute
Pomp and Circumstances
zu erkennen, als er plötzlich stutzte.
Was war das für ein unruhiger, roter Schein, der aus dem Innern des Transepts nach draußen
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