Die Rebellin
Rock und eilte im Laufschritt die Straße entlang, ohne auf die Pfützen zu achten. Ein feiner Nieselregen wehte ihr ins Gesicht. Und wenn die
Fortune
doch schon fort war? Weil vielleicht der Wind besonders günstig gewesen war oder der Kapitän aus sonst einem Grund vorzeitig die Segel hatte setzen lassen? Voller Angst sah Emily einen leeren Kai vor sich und in der Ferne ein Schiff, das irgendwo am Horizont verschwand.
Als sie das Zollhaus passierte, das als letztes Gebäude am Ende der Straße die Sicht auf den Hafen versperrte, erblickte sie die
Fortune
. Sie lag als zweites Schiff am Kai, durch dicke Taue fest mit dem Land verbunden. An Deck des Viermasters stand ein Vater mit drei Söhnen, die sich die Hälse verdrehten und voller Bewunderung den Matrosen in den Wanten zusahen.
Emily war so erleichtert, dass ihr schwindlig wurde. Sie blieb stehen und schloss für einen Moment die Augen.
»Pfefferminz! Dr. Jackson’s feines Pfefferminz!«
Emily drehte sich um. Vor ihr stand ein magerer Junge, der einen Kopf kleiner war als sie, mit nacktem Oberkörper und zerrissenen Hosen. Das Haar klebte ihm nass in der Stirn, mit seiner schmutzigen Hand streckte er ihr eine offene Schachtel entgegen.
»Hier, Miss. Damit küsst es sich nochmal so gut. Zwanzig Pastillen für ’nen Farthing!«
Der Junge lächelte sie an, aus einem blassen, unschuldigen Gesicht, das von Pickeln übersät war. Sein Anblick traf Emily mitten ins Herz. Genauso hatte Toby damals vor ihr gestanden, genauso armselig, genauso verletzlich. In derselben Sekundeholte die Erinnerung sie ein, die Erinnerung ihrer Schuld, die Victor und sie so lange verdrängt hatten, um nur die Schuld der anderen zu sehen. Sie selbst hatte ihren Vater auf die Idee gebracht, die Truppen am Bahnhof zu bewaffnen, und es war Victors Idee gewesen, einen Anschlag auf einen Zug auszuüben. Ohne sie beide würde Toby noch leben.
Emily schaute hinüber zum Kai. Am Hauptmast der
Fortune
fiel gerade knatternd ein Segel vom Reff, und während es im Wind schlug, wusste sie auf einmal, dass alles ganz anders sein würde, als sie es sich vorgestellt hatte, wusste es mit solcher Deutlichkeit, dass die Küsse, die sie schon geglaubt hatte zu schmecken, auf ihren Lippen zerfielen wie modrige Pilze. Nein, sie durfte nicht Hals über Kopf mit Victor den Kontinent verlassen, es war noch zu früh für eine solche Entscheidung. Toby stand zwischen ihnen, Toby und ihre gemeinsame Schuld.
Ohne zu überlegen, was sie tat, nahm Emily ihren Zeichenblock aus der Tasche und schrieb eilig ein paar Worte auf das Papier, Worte, die ihr ganzes Leben bedeuteten.
Liebster Victor,
ich stehe am Ufer und sehe dein Schiff, das gleich ablegen wird. Wie gern würde ich zu dir an Bord kommen, doch ich kann es nicht. Ich brauche noch Zeit, um alles zu begreifen und mit mir ins Reine zu kommen. Aber ich werde dir nach Australien folgen und dich finden, irgendwann, wenn Toby es will.
Bis dahin sollst du wissen: Joseph Paxton ist nicht dein Vater, ich habe den Beweis. Wir sind frei!
Wenn du mich liebst, warte auf mich.
Ich küsse dich, Emily
Sie riss das Blatt vom Block, faltete es zusammen und reichte es dem Jungen.
»Siehst du die
Fortune
da drüben?«, fragte sie ihn. »Bring demKapitän den Brief hier und sag ihm, er ist von Miss Emily Paxton. Er soll ihn Mr. Victor Chatsworth geben, aber erst wenn das Schiff den Hafen verlassen hat. – Kannst du das behalten?«
»Natürlich, Miss.« Der Junge wiederholte, was sie gesagt hatte.
»Gut.« Emily drückte ihm einen Shilling in die Hand. »Dann ab mit dir.«
Ohne noch einmal zum Kai zu schauen, drehte sie sich um und lief zurück in Richtung Stadt, bahnte sich einen Weg durch das Gewühl von Seeleuten und Schaulustigen auf der Pier, vorbei an dem Zollhaus, das den Ausgang des Hafens markierte, um die Speicherhäuser und Werften so schnell wie möglich hinter sich zu lassen und in die fremden Straßen und Gassen einzutauchen, eilte zwischen zwei hohen Häusern eine Treppe hinauf, die zu einem Park führte, immer weiter und weiter, bis sie ganz sicher war, dass keine Blicke und keine Rufe sie mehr erreichten.
Erst als sie die Höhe eines Hügels erklommen hatte, auf dessen Kuppe sich eine Zitadelle über der Stadt und dem Hafen erhob, blieb sie stehen. Auf einem Exerzierplatz zu Füßen der Anlage kommandierte ein Feldwebel eine Abteilung Rekruten, die in durchnässten Uniformen immer wieder ihre Gewehre präsentieren mussten. Emily ging weiter vor zu
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