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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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drang? Mit raschen Schritten überquerte Sir Henry die Straße und lief in das Gebäude, wo ihn laut und unverkennbar die Töne seines Lieblingsmarsches empfingen, zusammen mit dem beißenden Geruch von Rauch. Ohne auf die Musik zu achten, die aus einem der rückwärtigen Konzertsäle erklang, eilte er die Treppe hinauf zum Verwaltungstrakt, wo der Dienst habende Feuerwehrmann und mehrere Arbeiter verzweifelt damit beschäftigt waren, ein kleines, heftiges Feuer zu löschen, das in einem Büro ausgebrochen war.
    Sir Henry begriff sofort die Gefahr. Während seiner Amtszeit hatte es schon mehrere Brände in dem Bauwerk gegeben, doch keiner hatte eine solche Kraft gehabt wie dieser. Ohne zu zögern, schickte er einen Arbeiter zu den Konzertsälen, um die Musiker zu warnen, und das Orchester war noch nicht verstummt, als das Feuer sich auch schon auf die ersten Nebenräume und die Galerie ausbreitete, wo das alte, in Jahrzehnten ausgetrocknete Holz der Wandverkleidungen wie Zunder brannte.
    Um drei Minuten nach acht traf die Feuerwehrbrigade von Penge Hill ein. Doch da stand schon das gesamte Transept in Flammen. Zu Hunderten platzten die Glasscheiben in der Hitze, zerbarsten in immer wieder neuen Salven, als wollte die Zerstörung ihrem eigenen Opfer ein Salut bereiten. Der starke Nordwestwind, der durch die Öffnungen einströmte, verwandelte die Halle in einen gigantischen Kamin, und durch die Zugluft gestärkt, fanden die Flammen im Nu ihren Weg hinunter ins Erdgeschoss, wo sie gierig über das hölzerne Podium und die zwanzigtausend Stühle herfielen, die dort aufgereiht standen. Die Löschtruppen, ausgerüstet nur mit einer einzigen, altersschwachen Pumpe, sahen ohnmächtig zu, wie die Flammen sich immer weiter fraßen, wie sie sich alles einverleibten, was ihnenin den Weg kam, unersättlich und unerbittlich, die Pflanzen und Bäume genauso wie die Figuren des Wachsfigurenkabinetts und die Nachbildungen von Dinosauriern und anderen Urzeitmonstern in der prähistorischen Sammlung. Die Feuerwehrmänner konnten nichts weiter ausrichten, als ein paar Dutzend exotischer Singvögel, die aufgeregt in ihren Volieren flatterten, aus ihren Gefängnissen zu befreien, in der Hoffnung, dass sie lebend dem flammenden Inferno entkamen.
    Jede Minute trafen weitere Feuerwehrbrigaden in Sydenham ein, mit laut bimmelnden Alarmglocken und heulenden Sirenen, aus ganz London wurden sie zusammengezogen, insgesamt neunundachtzig Löschzüge und dreihunderteinundachtzig Männer. Aber der Druck des Wassers oben auf dem Hügel war viel zu schwach, als dass sie dem Brand hätten Einhalt gebieten können. Eilig warfen die Männer die Motorpumpen an und rollten die Schläuche aus. Doch selbst der modernste Londoner Spritzenwagen, der erst am Nachmittag zuvor der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, konnte das Ende nur ein wenig hinauszögern – verhindern konnte er es nicht. Bald hatte die Hitze eine solche Intensität erreicht, dass die alten schwarzen Eisenstreben weiß zu glühen begannen, sich verdrehten und einknickten, als wären sie aus Wachs. Überall platzte die Haut des alten Riesen, Träger für Träger, Strebe für Strebe, fiel das stählerne Skelett in sich zusammen, in haushohen Schauern von sprühenden Funken und Flammen, während die große Orgel mit ihren über dreitausend Pfeifen, in die der Feuersturm seinen apokalyptischen Atem blies, noch einmal aufstöhnte, um zu einem letzten ohrenbetäubenden Choral anzuschwellen. Dann, um fünf Minuten nach halb neun, stürzte die Kuppel des Transepts ein, mit einem Krachen und Donnern, als feuere ein Artillerieregiment sämtliche Kanonen auf einmal ab, und aus den Kellern des Gebäudes flohen Tausende zu Tode geängstigter Ratten hinaus ins Freie, ein schwarzer fiepender Teppich, der bald den ganzen Park überzog.
    Im Umkreis von fünf Meilen war der Einsturz zu hören, und noch weiter waren die Flammen zu sehen, die dreihundert Fuß hoch in den nächtlichen Himmel aufschlugen. Ein rötlicher Schein lag über der Hauptstadt, nur verhüllt von dem Rauch, den der Wind in Richtung Südosten trieb. In Scharen strömten die Menschen hinaus auf die Straßen, angezogen von einem unwiderstehlichen Grauen, um sämtliche Hügel Londons zu besetzen. Hustend und blinzelnd standen sie da und starrten in ehrfürchtiger Scheu auf das Schauspiel. Auf dem Dach von Westminster drängten sich die Abgeordneten beider Häuser des Parlaments, Lords und Tories und Whigs, vereint im fassungslosen

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