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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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die ihn noch von der Freiheit trennte, während das Knarren der Tretmühle, die schleppenden Schritte der Gefangenen in den Rädern ihn bis in das Gebäude hinein verfolgten, so unerträglich wie die ewige Verdammnis, und er musste seine ganze Beherrschung aufbieten, um Oberaufseher Walker nicht niederzuschlagen, damit er diesen Ort endlich verlassen konnte.
    »Abteilung halt!«
    In der Eingangshalle, vor dem Büro von Direktor Mayhew, nahm Victor mit den anderen Häftlingen Aufstellung. Gleich darauf trat Mayhew, gefolgt von einem Schreiber, aus der Tür, um die Entlassungen vorzunehmen. Ein Hilfswärter teilte den Männern ihre alten Kleider aus, und während sie diese gegen die grauen Anstaltsuniformen tauschten, drückte der Direktor, ein wegen seiner Frömmigkeit gefürchteter Mann mit straffer, aufrechter Haltung und blank polierter Glatze, seine Hoffnung aus, dass sie nunmehr bessere Menschen seien als diejenigen, die diese Kleider bei Antritt ihrer Haft vor Jahr und Tag hier abgelegt hatten.
    »Wofür hat man dich bestraft?«, fragte er einen jungen Maurer, den ersten Häftling in der Reihe, dem sein alter Arbeitsanzug viel zu weit um den mageren Leib schlotterte und dessen Füße in Schuhen ohne Sohlen steckten.
    »Ich habe einen Hammel gestohlen, Sir. Ich … ich hatte keine Arbeit und musste sechs Kinder ernähren.«
    »Was hat dich zu dem Verbrechen verleitet?«
    »Schlechte Gesellschaft, Sir.«
    »Nun, du hast hier arbeiten gelernt und wirst in Zukunft fleißig sein. Doch hüte dich, wenn du jetzt wieder deine alten Kleider trägst, auch in deine alten Gewohnheiten zurückzufallen.«
    »Gewiss, Sir … Nein, Sir … Danke, Sir …«
    Während der Schreiber die Entlassungspapiere ausfertigte,brachte der Maurer die Worte nur stockend hervor, als müsse er das Sprechen nach so langer Zeit des Schweigens erst wieder erlernen. Direktor Mayhew drückte ihm eine Münze in die Hand und ordnete an, ihm ein Paar besohlte Schuhe auszuhändigen. Dann rief der Schreiber den nächsten Häftling auf, einen zwanzig Jahre alten Taschendieb, der mit ebenso schleppender Stimme wie der Maurer zuvor gelobte, sich nie mehr an fremdem Eigentum zu vergreifen.
    »Ich will dich hier nicht wiedersehen«, sagte der Direktor.
    »Niemals, Sir … Bei der Seele meiner Mutter, Sir.«
    In der Ferne ertönte ein Harmonium, und gleich darauf ein Choral von Männerstimmen. Während in der Anstaltskapelle der morgendliche Gottesdienst begann, trat ein Küchenjunge, der nicht ganz richtig im Kopf war, vor den Direktor, danach ein Bierkutscher und anschließend ein Sattlergeselle. Victor blickte in ihre Gesichter und konnte die Gleichgültigkeit darin nicht fassen. Während ihm selber jedes Wort zur Qual wurde, das Mayhew in seiner korrekten, umständlichen Art mit den Gefangenen wechselte, als wollte er Victors Rückkehr in die Freiheit nur noch weiter hinauszögern, ließ keiner der Männer eine Gemütsregung angesichts der bevorstehenden Entlassung erkennen. Ausdruckslos, die Gesichter so grau wie die Uniformen, die sie bis vor wenigen Minuten noch getragen hatten, starrten sie vor sich hin und antworteten auf die Fragen des Direktors so leise und unbeteiligt, wie sie vor Wochen oder Monaten auf irgendeine Frage der Wärter geantwortet hatten, alle mit denselben willenlosen Mienen, unfähig, Mayhew in die Augen zu sehen – Fleisch gewordene Unterwürfigkeit. Ja, die Haft hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Nicht das Martyrium der körperlichen Arbeit, auch nicht die Tortur des Schweigens war die eigentliche Strafe in dieser Hölle, die als Musteranstalt des modernen Strafvollzugs im Königreich galt. Der wirkliche Zweck, der hier mit nüchterner Beharrlichkeit verfolgt wurde, das hatte Victor in dem Moment erkannt, in dem er die vollkommene Nutzlosigkeitder Tretmühle begriff, bestand allein darin, den Willen der Menschen zu brechen.
    »Und du?« Mayhew blickte Victor mit seinen grauen Augen an.
    »Warst du schon einmal hier? Oder in einer anderen Strafanstalt?«
    »Nein, Sir«, sagte Victor und trat vor. »Keine früheren Vorstrafen, Sir.«
    Nur mit Mühe gelang es ihm, den Blick des Direktors zu erwidern. Er hatte oft genug erlebt, wie Mayhew Häftlinge, die beim Gottesdienst miteinander sprachen, in Dunkelarrest sperren ließ, und wer im Schlafraum dabei überrascht wurde, dass er Unzucht mit sich selber trieb, wurde auf Anweisung des Direktors vor den Augen der Mitgefangenen ausgepeitscht.
    »Dann gib Acht, dass es bei diesem einen Mal

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