Die Rebellin
ihrem Tagebuch auf. Sie war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und, wenn man den Worten ihrer Mutter glauben sollte, mit ihren hellen, türkisfarbenen Augen und den schwarzen Locken eine junge hübsche Frau. Ihr selber war es allerdings verhasst, als hübsche junge Frau zu gelten – sie hielt ihr Äußeres für ziemlich misslungen. Ihr Körper, den ihre Mutter als wunderbar schlank bezeichnete, erschien ihr, wenn sie sich nackt im Spiegel betrachtete, wie ein rachitisches Knochengerüst, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass je ein Mann sich in dieses Skelett verliebte. Der Mann, der das tun würde, müsste ein Idiot sein.
Nein, Männer interessierten sie nicht – der graue Kittel, den sie im Gewächshaus trug, war mit Abstand ihr liebstes Kostüm, und statt Bälle und Salons zu besuchen, half sie ihrem Vater, die Parkanlagen des Herzogs in Ordnung zu halten. Außerdem betrieb sie, nachdem sie ihre Schulzeit beendet hatte, privat jene Studien der Botanik und Zoologie weiter, die sie bereits als Kind unter Anleitung ihres Vaters begonnen hatte – sie hatten zusammen sogar tierisches Leben erzeugt, kleine Insekten, mit Hilfe einer voltaischen Batterie und kieselsaurem Kali, nach dem berühmten Experiment des Herrn Crosse. Emilys sehnlichster Wunsch wäre es deshalb gewesen, ihre naturwissenschaftlichen Kenntnisse an einem College in Oxford oder Cambridge zu vertiefen, doch da ihr als Frau der Zugang zur Universität verwehrt blieb, war sie auf die Londoner Bibliotheken sowie ihren eigenen Verstand angewiesen. Und natürlich auf ihren Vater.
»Meinst du vielleicht diese hier?«
Sie öffnete ihre Zeichenmappe und holte die Blätter hervor, die sie am Vormittag fertig gestellt hatte, Illustrationen für dienächste Nummer des
Magazine of Botany
, das ihr Vater herausgab und zu dem sie die Zeichnungen beitrug. Paxton nahm die Blätter und schaute sie der Reihe nach an.
»Wunderbar«, sagte er. »So wie du die Pflanzen zeichnest, tritt einem der ganze Bauplan der Natur entgegen, als wären die Illustrationen ein Text, den man Buchstabe für Buchstabe entziffert. Schade, dass man das im Druck nicht mehr sieht.«
»Vielleicht weiß ich eine Lösung«, sagte Emily. »Mr. Benson, der Buchbinder, hat mir einen Drucker in der Drury Lane empfohlen. Der schafft Illustrationen angeblich in einer solchen Qualität, dass man das Original nicht von der Reproduktion unterscheiden kann. Soll ich da nicht mal fragen?«
»In der Drury Lane? Eine ziemlich üble Gegend.«
»Ach, Papa, ich bin doch kein Kind mehr.«
Sie sah ihn an, aber er war schon wieder in ihre Zeichnungen versunken. »Ich glaube, ich muss mir doch irgendwann eine Brille zulegen«, murmelte er, während er mit zusammengekniffenen Augen die Abbildungen studierte. »Diese Kopfschmerzen machen mich noch verrückt.« Dann klappte er die Mappe zu und erwiderte ihren Blick. »Also gut, probier’s aus. Damit die Leser des
Magazine
erfahren, was für eine wunderbare Tochter ich habe. Aber keinen Ton davon zu Mama! Versprochen?«
»Versprochen!«
Er gab ihr die Bätter zurück. »Wirklich, Emily, ich bin sehr stolz auf dich. Du hast das Talent zu etwas ganz Großem.«
»So wie du?«, grinste sie.
»So wie ich«, grinste er zurück. »Wenn du ein Junge wärst, ich wette, du würdest mindestens Universitätsprofessor.«
»Oder Premierminister«, lachte sie. »Aber leider bin ich nur ein Mädchen.«
»Gott sei Dank«, sagte er und gab ihr einen Kuss. Dann wurde er ernst. Umständlich nahm er sein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche, ließ den Deckel aufspringen und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Dann bot er auch ihr eine an. Emilystutzte. Das tat er nur, wenn er sie ins Vertrauen ziehen wollte. Während sie den Rauch tief in ihre Lungen einsog und dabei das erregende Kribbeln genoss, mit dem sich die Wirkung der Zigarette vom Kopf bis zum kleinen Zeh in ihrem Körper ausbreitete, wartete sie darauf, dass ihr Vater zu reden anfing.
»Die Zeitschrift ist nach dir mein liebstes Kind«, sagte er, »doch werde ich in Zukunft kaum noch Zeit haben, mich um sie zu kümmern. Und auch die Gewächshäuser und Gärten werden öfter ohne mich auskommen müssen als bisher.«
»Wieso?«, fragte Emily. »Gibt es Probleme?«
Paxton lachte. »Probleme? Hast du je erlebt, dass dein Vater Probleme hatte? Du kennst doch meine Devise.«
»Ja, ja – wenn es einem richtig schlecht geht und man nur einen Penny in der Tasche hat, muss man sich was Gutes gönnen.
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