Die Rebenprinzessin
reif und bereit, gepresst und gekeltert zu werden.
Mit einem zufriedenen Lächeln legte die junge Frau, die mit dem braunen Ordenskleid der Klarissen, einer Schürze und einer weißen Haube bekleidet war, die Rebe in den Korb und schnitt sogleich die nächste ab. Jede von ihnen behandelte sie so sorgfältig wie ein rohes Ei. Später würden die Trauben zwar zerstampft werden, aber Druckstellen, die beim Pflücken entstanden, konnten dazu führen, dass der Saft noch in der Traube zu gären begann. Bella wusste nur zu gut, dass sie das unbedingt vermeiden musste, um den Wein nicht zu verderben.
Während der Korb zu ihren Füßen sich zusehends füllte, wanderte die eine oder andere Traube in Bellas Mund. Die gelblich grüne Schale knackte leise, als sich ihre Zähne hineinbohrten, und wenig später floss der Saft über ihre Zunge.
Nicht zu sauer und nicht zu süß, dachte sie. Gewiss werden sie einen guten Wein ergeben, für den sich das Kloster nicht schämen muss.
Solange sie denken konnte, war der Weinberg der Ort gewesen, an dem sie sich am wohlsten fühlte. Als sie klein war, hatte sie zwischen den hohen Rebstöcken Verstecken gespielt, und später, als das Schicksal sie prüfte, war es der Ort gewesen, an dem sie ungehindert weinen und klagen konnte.
Die Weinstöcke waren wie Freunde für sie gewesen. Die Blätter hatten ihr tröstend übers Haar gestreichelt, und die Reben hatten ihr süßen Saft gespendet. Und manchmal, wenn der Wind durch die langen Reihen strich, hatte es den Anschein gehabt, als würden die Pflanzen ihr leise zuflüstern.
Schon früh hatte Bella davon geträumt, das Weingut ihres Vaters zu führen. Oder ein eigenes. Doch nun wusste sie nicht mehr so recht, worauf sie hoffen sollte, und verbrachte ihre Tage im Kloster Bärbach. Die väterliche Burg war so weit entfernt, dass sie deren Weinberge von hier aus nicht sehen konnte. Seit Monaten hatte sie keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Es schien, als hätte er sie hier vergessen.
Seufzend schob die junge Frau die finsteren Gedanken beiseite und setzte das Messer wieder an die Reben an.
An diesem Morgen waren die Bewohnerinnen des Klosters schon früh zum Weinberg aufgebrochen, um einen Teil des Weins, der hier an einem Hang oberhalb der Lahn wuchs, zu pflücken und zu lesen. Nonnen, Novizinnen und Schülerinnen hatten sich über den gesamten Weinberg verteilt, der sich wie ein Teppich vor dem Kloster ausbreitete.
Zwar gab es vereinzelt noch sonnige Tage, aber man spürte bereits, dass der Winter im Anzug war. Der Atem bildete vor den Mündern der Frauen kleine Wolken, und sie mussten sich mehrfach die Finger anhauchen, damit sie genug Gefühl für die Trauben aufbringen konnten. Bella rieb sich zwischendurch immer wieder die Finger warm, damit sie die Reben auch weiterhin sanft anfassen konnte.
Zwei verschiedene Rebsorten baute man auf dem klösterlichen Weinberg an, weißen und roten Heunisch. Die Trauben waren nicht von edler Herkunft, aber die Erträge waren reichlich. Die roten sollten, wie es vorgeschrieben war, zu Messwein verarbeitet werden. Den weißen Wein schenkte man den Gästen des Klosters aus und verkaufte ihn, um die Einnahmen aufzubessern.
Bella hörte in der Ferne einige Mädchen lachen, dann die scheltende Stimme der Messnerin. Für einen Moment wurde es still, dann flammte das Gekicher wieder auf.
Ein kleiner Pferdewagen, gezogen von einem gutmütigen Kaltblutschimmel, bewegte sich langsam und ächzend durch die Gänge zwischen den Weinstöcken, damit die Frauen ihre Körbe abladen konnten.
Über allem hingen der grüne Geruch des Weinlaubs, der erdige Duft des Bodens und ein Hauch Süße, die von den Trauben ausging, welche die Vögel angepickt hatten.
Als ihr Korb voll war, reckte sich Bella kurz, strich über den Wollstoff ihres Kleides und richtete die Haube, unter der ihr von goldenen Strähnen durchzogenes hellbraunes Haar verborgen war. Sie schob die hervorlugenden Haare sorgfältig wieder unter den Stoff und hielt Ausschau nach dem Wagen. Soweit sie es erkennen konnte, war er noch ein gutes Stück entfernt, sie konnte sich also eine kurze Pause gönnen.
Plötzlich raschelte es zwischen den Rebstöcken.
»Bella!«, rief eine Mädchenstimme.
Als die junge Frau sich umwandte, erkannte sie Anna, die Novizin, die heute der Äbtissin als Handlangerin diente. Offenbar hatte sie schon einige Reihen des Weinstocks nach ihr abgesucht, denn ihre Kleider waren vom Tau durchnässt, und einige kleine Blätter
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