Die Reise Nach Helsinki
ihn nicht sehen wollte? Und die
Tante, die auf ein Wiedersehen mit ihrem Bruder verzichtete, um
ihre Nichte nicht zu verletzen? Sie schien heikel zu sein, diese
Schwester, sie schien die Leute nach ihrer Pfeife tanzen zu
lassen.
Anna beschloss, direkt eine
Reiseagentur aufzusuchen und ein Visum zu beantragen. Außerdem
würde sie Dr. Gerstner vorschlagen, Louise zusammen mit Emma nach
Bad Neuenahr zu schicken, damit sie beide eine Nervenkur machten.
Louise lag immer noch im Bett, sie fieberte und murmelte
unverständliche Dinge vor sich hin, manchmal hatte Anna den
Eindruck, dass sich ihr Geist langsam umnachtete. Auch Emma ging es
nicht gut, sie stand weiter unter starken Medikamenten und hatte
Anna mit matter Stimme von dem Verhör berichtet, dem Kommissar
Hohenstein sie unterzogen hatte. Er habe ihr zugesetzt und die
Vermutung geäußert, sie könne etwas mit dem Tod von Pekka zu tun
haben. Sie sei einer Ohnmacht nahe gewesen ob einer so
impertinenten Bezichtigung, allerdings habe sich der Chefarzt des
Klinikums, der sie zum Glück nicht allein gelassen habe,
eingeschaltet und den Kommissar in seine Schranken
verwiesen.
Das Einzige, was Anna nicht behagte,
war die Aussicht, die Reise allein antreten zu müssen. Jemand
müsste sie begleiten, aber wer? Adele Honscheid käme infrage,
sicher wäre sie einem solchen Abenteuer nicht abgeneigt.
Andererseits hatte sie vielfältige Verpflichtungen in Berlin und
war kurzfristig sicher nicht abkömmlich. Dann fiel ihr Lina ein,
vielleicht konnte sie mitfahren? Bestimmt wäre sie eine angenehme
Reisebegleiterin. Vielleicht konnte Anna sie als Gesellschafterin
engagieren?
Sie ließ sich mit der Nummer der
Villa vom Baum im Briller Viertel verbinden und hatte sofort Lina
am Apparat. Anna schlug ein Treffen in der Mittagszeit im Cafe
Kremer vor. Dann ging sie zur Post und gab ein Telegramm an Carl
Soderberg auf, in dem sie ihr Kommen ankündigte, anschließend
steuerte sie eine Reiseagentur auf der Königsstraße an, wo sie
erfuhr, dass jeden Samstag ein Schiff von Lübeck abfuhr, das zwei
Tage bis Helsinki brauchte. Sie ließ zwei Plätze für den 9. Juni
vormerken, und man sagte ihr zu, bei den Visaanträgen behilflich zu
sein und für eine schnellstmögliche Bearbeitung zu
sorgen.
Lina saß bereits bei Kremer, sie war
blass, geradezu durchsichtig, auch sie schien abgenommen zu haben
und ließ ihren Blick verängstigt durch das voll besetzte Cafe
schweifen. Tränen schössen ihr in die Augen, als sie Anna
sah.
»Das mit deinem Vater ist so
grauenvoll«, flüsterte sie, »ich habe es überhaupt nicht glauben
wollen. So etwas Entsetzliches kann man sich ja gar nicht
vorstellen. Weiß man denn schon, was dahinter steckt?«
Anna berichtete vom Stand der
Ermittlungen, und auch, dass Onkel Eli zunächst verdächtigt und
eingehend verhört worden war. »Ich glaube nicht, dass er der
Polizei die Wahrheit gesagt hat, es war etwas Ernsthaftes zwischen
Papa und ihm, da bin ich ziemlich sicher. Andererseits glaube ich
nicht, dass er etwas mit seinem Tod zu tun hat, es sieht mehr und
mehr danach aus, als sei der Mörder tatsächlich in Helsinki zu
suchen.«
Lina sah stumm in ihren Schoß und
kämpfte mit den Tränen. Annas Redeschwall war ohnehin nicht zu
bremsen, sie erzählte von den Enthüllungen in Carl Soderbergs
Briefen und breitete ihre Reisepläne aus.
»Und du musst mit, ich traue mich
nicht allein. Ich habe schon Soderbergs telegrafiert, sicher können
wir sie als Anlaufadresse nehmen.«
Lina wurde rot und blass, sie
knetete ihre Finger und setzte immer wieder an, etwas zu sagen,
aber es kam nichts heraus.
»Ich bezahle natürlich die Reise für
uns beide«, sagte Anna in der Annahme, dass das Linas Problem sei,
»du weißt, dass mein Vater wohlhabend war. Wir sind ihm diese Reise
schuldig, wenigstens das können wir für ihn tun.«
Lina wand sich zuerst, das könne sie
nicht annehmen, willigte schließlich aber doch überraschend schnell
ein. Sie überlege schon lange, wie sie der vom Baum entkommen
könne, sagte sie leise, eigentlich komme Annas Angebot wie gerufen.
»Ich bin dir so dankbar, ich kann es gar nicht sagen. Was meinst
du, wann wird es losgehen?«
»Ich habe Schiffskarten für den 9.
Juni bestellt und bestätige sofort. Ich hoffe, dass wir die Visa
schnell bekommen. Du musst mir deinen Pass geben, ich leite alles
in die Wege. O Lina, wie bin ich froh, dass du
mitkommst.«
Lina weinte und küsste Anna zum
Abschied. Die sah ihr nach, wie sie auf ihren
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