Die Reise Nach Helsinki
Geschäftsleute vom
Wall und aus der ganzen Innenstadt erkannte. In einer der letzten
Reihen saß eine zarte Gestalt, die hinter ihrem Hutschleier heftig
zu weinen schien. Lina, das musste Lina sein. Nicht weit von ihr
saßen der Kommissar und der Sergeant.
Sie lief über den Friedhof bis zu
einem frisch ausgehobenen Grab, wo Pekkas Sarg in die Erde gelassen
wurde. Anna dachte nichts, außer dass Elias Louise gut festhalten
sollte, damit sie nicht hinterhersprang, wie eine Schleife drehte
es sich in ihrem Kopf.
Nach dem Ende der Zeremonie brachte
Elias Louise nach Hause, Anna ließ mechanisch das Defilee der
Elberfelder Honoratioren über sich ergehen. Auf dem Weg zum
Friedhofsausgang, wo die Droschken warteten, um sie zum Hotel
Weidenbruch am Bahnhof zu bringen, sah sie einen Mann mit
verweinten, auffällig großen und blauen Augen, den sie zu kennen
glaubte, hinter einem dicken Lindenstamm verschwinden. In der
Droschke fiel ihr ein, dass es der Gleiche gewesen war, den sie
schon einmal am Wall gesehen und für einen Russen gehalten hatte.
Das war zwei Tage vor dem Mord an Pekka. Und nun war er hier auf
der Beerdigung. Heißer Schrecken schoss hoch, und sie nahm sich
vor, Sergeant Blank davon zu berichten.
Im Saal des Hotels war die gesamte
Elberfelder Geschäftswelt um lange Tafeln mit Kaffee und Bergen von
Butterkuchen versammelt. Anna hatte sich vorgenommen, alle Fragen
nach den Umständen von Pekkas Tod kategorisch abzuwehren, und zog
ihren schwarzen Hutschleier halb über das Gesicht, bevor sie sich
unter die Gäste mischte.
Abraham Feldmann, der ein gut
gehendes Geschäft für Damenkonfektion auf der Herzogstraße betrieb,
sah ihr mitleidig ins Gesicht, beugte sich an ihr Ohr und
flüsterte, falls sie die Absicht habe, das Geschäft zu verkaufen,
könne sie sich jederzeit vertrauensvoll an ihn wenden, er werde ein
gutes Angebot abgeben.
Während die Butterkuchenberge
schwanden und die Kellner immer neuen Kaffee heranschleppten, gab
es viele Nachfragen von mitleidigen Gattinnen nach Emmas und
Louises Befinden und noch weitere diskrete Kaufangebote von
dickleibigen älteren Herren. Anna beschlich das Gefühl, von Geiern
umgeben zu sein, die auf Beute lauerten.
*
Das Telefon schnarrte, verschlafen
und lustlos griff Hugo nach dem Hörer. Eigentlich mochte er so früh
noch nicht sprechen.
»Blank, Polizei
Elberfeld.«
In der Leitung knackte es,
dazwischen hörte er den finnischen Akzent von Pirkkaliisa
Großmann.
»Guten Morgen, Herr Sergeant, ich
hoffe, es geht Ihnen gut. Ich habe spannende Neuigkeiten für Sie,
Sie werden es nicht glauben«, sagte sie. »Ich habe gestern Abend
einen Brief übersetzt, der voller Wasserflecken war, als hätte Herr
Salander darauf geweint. Ich konnte gar nicht alles richtig lesen.
Und wenn man den Inhalt kennt, verwundert es einen auch nicht, der
ist wirklich zum Weinen.«
»Nun sagen Sie schon, Sie spannen
mich ja richtig auf die Folter.« Hugo saß hellwach und angespannt
auf seinem Bürostuhl, Auge in Auge mit dem Kaiser, der streng von
der Wand blickte.
»Vom 15. März 1902. Ich lese vor:
Lieber Pekka, bevor ich vom Geschäftlichen spreche, möchte ich dir
eine Mitteilung machen, von der ich fürchte, dass sie dir wehtun
wird. Ich hoffe, du wirst sie tragen können. Ich habe mit deiner
Tochter und deiner Schwester gesprochen, und sie möchten nicht,
dass du nach Helsinki kommst. Riikka will dich nicht sehen, sie
sagt, du habest ihr so große Schmerzen zugefügt, dass sie nicht
daran erinnert werden möchte. Minna hat mir gesagt, Riikka sei
krank geworden, als sie von deinem Brief hörte, sie habe zwei Tage
Fieber gehabt. Minna tut das alles schrecklich weh, sie sagt, sie
würde dich gerne sehen, sie hat große Sehnsucht nach ihrem Bruder.
Aber wegen Riikka, denkt sie, ist es besser, wenn ihr nicht kommt,
noch nicht. Vielleicht später, hat sie gesagt, aber sie hat sich
danach erkundigt, wie du lebst in Elberfeld und auch nach Anna, was
sie für ein Mädchen ist, ob sie dir Freude macht. Ich habe ihr
alles erzählt und eine Fotografie von Anna gezeigt, wir haben lange
miteinander gesprochen. Vielleicht ist das ein Trost für
dich.«
Pirkkaliisa hielt inne, ihre helle
Stimme hatte sich belegt.
»Jetzt kommen nur noch geschäftliche
Dinge, was es in dem Jahr an Pelzen gab und so weiter, ich schicke
Ihnen das alles schriftlich.«
»Das heißt, er hatte eine Tochter in
Helsinki und hat nie darüber gesprochen, seine Familie in
Elberfeld, seine Frau, seine Tochter
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