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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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aufnehmen.«
    »Mit ihrer Mutter ist Riikka genauso
verfahren, sie hat sie jahrelang überhaupt nicht erwähnt. Nur ihr
Onkel Matte lag ihr am Herzen, er ist mein Vater und meine Mutter,
sagt sie von ihm, er hat mir das Leben erhalten, niemand
sonst.«
    »Was ist aus dem Onkel geworden? Ist
er allein in Lappland geblieben?«
    »Er ist krank«, sagte Minna, »sein
Verstand verwirrt sich manchmal, er hat wohl in seinem Leben zu
viel mitgemacht. Im Winter ist es besonders schlimm, deshalb holen
wir ihn dann nach Helsinki und lassen ihn psychiatrisch behandeln,
es gibt einen Arzt, der sich sehr um ihn bemüht und ihm ganz gut
hilft. Auf jeden Fall ist es uns lieber, er ist in der kalten Zeit
bei uns als im Norden, wo er bei vierzig Grad minus allein auf sich
gestellt ist. Um seine Herde kümmern sich dann die Nachbarn, sie
ist sowieso nur noch klein, ein paar Tiere, damit er im Sommer
etwas zu tun hat.«
    Anna lehnte sich zurück, ihr
Vorstellungsvermögen reichte kaum aus für das, was ihre Schwester
durchgemacht haben musste. Polarnacht in einem Lappenzelt, allein
gelassen von Mutter und Vater. Aber gab ihr das das Recht, ihren
Vater bis in alle Ewigkeit zu hassen und ihre Schwester
dazu?
    »Ich glaube, Riikka hat Pekka früher
so geliebt, wie ein kleines Mädchen seinen Vater nur lieben kann
und wie wir alle ihn geliebt haben. Und mit der gleichen
Leidenschaftlichkeit lehnt sie ihn jetzt ab, eine andere
Möglichkeit hat sie vielleicht nicht.« Minna beugte sich vor und
strich Anna über die Wange. »Ich weiß, dass das auch für dich sehr,
sehr schwer ist.«
    Lina wischte sich die Augen und
stand auf. »Ich gehe mal eben ein bisschen durch den Garten«, sagte
sie mit erstickter Stimme und lief durch die Dämmerung in Richtung
Ostsee, ihr Rücken bebte.
    Die Wanduhr im Wohnraum schlug
zwölfmal.
    »Meine Güte«, sagte Anna,
»Mitternacht und noch taghell.« Dann sah sie Minna lange an. »Du
weißt, was man bei der Geschichte denken muss, etwas, das man
eigentlich gar nicht denken darf.«
    »Natürlich denkt man es«, sagte
Minna, »der junge Kommissar Plosila ist auch darauf herumgeritten.
Riikka hat ihm ganz kalt gesagt, der Tod ihres Vaters interessiere
sie nicht, sie habe nichts mit ihm zu schaffen. Plosila hat
geantwortet, ihr Verhalten würde das Motiv Hass nahe legen, aber da
hat sie gesagt, um jemanden hassen zu können, müsse sie ein
Verhältnis zu ihm haben, und das habe sie zu ihrem Vater nicht. Ich
habe ihre Reaktion gesehen, als ich ihr sagte, Pekka sei ermordet
worden, sie schien mir ehrlich schockiert und überrascht, dann hat
sie es allerdings schnell überspielt, darin ist sie
Meisterin.«
    Anna sah skeptisch aus.
    »Ich kann nur nach meinem Gefühl
gehen«, ergänzte Minna, »im Grunde genommen weiß ich natürlich
nicht mehr als du. Sie spricht mit mir nicht darüber, sie hat ja
nie über ihren Vater gesprochen, sie hat immer so getan, als
existiere er nicht.«
    »Vielleicht wollte sie das in die
Realität umsetzen.«
    »Nein«, sagte Minna entschieden und
sah Anna in die Augen, »das glaube ich nicht. So eine Tat würde
ihrem Wesen ganz und gar widersprechen. Ich hoffe, du wirst sie
bald kennen lernen, dann wirst du der gleichen Meinung sein. Und
jetzt gehe ich, ihr müsst ja todmüde von der Reise
sein.«
    Minna verabschiedete sich von
Soderbergs, Anna brachte sie über das Grundstück zur Straße. Von
der Ostsee strich ein kühler Wind durch den Garten.
    »Was ist mit deiner Freundin?«,
sagte Minna. »Mir schien, sie sei traurig.«
    »Das ist eine andere Geschichte, die
erzählen wir dir beim nächsten Mal. Ich schaue nach ihr, wir sehen
uns bald.« Anna küsste ihre Tante auf die Wange, dann lief sie über
den Felsen zu Lina, die auf das dunkel glänzende Meer blickte und
bitterlich weinte.
    *
    In den nächsten beiden Tagen
durchstreiften Anna und Lina die Umgebung und sahen sich die
Innenstadt von Helsinki an. Sie statteten Carl Soderberg einen
Besuch in seinem Geschäft ab, bummelten über die Esplanade und
inspizierten die eleganten Läden dort. Am Ostseeufer sahen sie
staunend zu, wie die Dienstmädchen im Wasser Flickenteppiche mit
harten Bürsten und Seife schrubbten und sie über Holzgestelle zum
Trocknen aufhängten, die extra für diesen Zweck aufgestellt worden
waren.    
    Am Mittwochnachmittag traf ein
Telegramm für Anna ein.
    »Sie kommen tatsächlich«, sagte sie
aufgeregt zu Lina, nachdem sie es gelesen hatte, »es hört sich auch
so an, als wüssten sie alles. Wahrscheinlich

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