Die Reise Nach Helsinki
Sonntagnachmittagen, sie waren oft auch
hier im Sommerhaus. Immer sehe ich dieses entzückende Kind vor mir
mit den rabenschwarzen Haaren und den breiten, flachen Wangen der
Lappen, aber mit Pekkas Augen, die du ja auch geerbt hast. Und
Marja war eine der zauberhaftesten Frauen, die ich je kennen
gelernt habe. Etwas größer als die anderen Lappen, dunkle Augen,
mit denen sie einen unverwandt ansehen konnte, voller Vertrauen und
Aufmerksamkeit, voller Freundlichkeit und Hingabe. Wenn sie lacht,
ist es wie der Sonnenaufgang im Frühling, hat Pekka immer gesagt,
wenn die ersten Strahlen über dem See leuchten und ein leichter
Wind durch die Zweige geht, die prall sind von den Knospen, wenn
alles voller Hoffnung ist und die Wärme und das Licht des Sommers
in der Luft liegen. Und das stimmte, so war Marja, ganz genau so.
Aber die Stadt war nichts für sie, sie war ein Kind der Lappen,
obwohl ihr Vater ein Norweger war, sie fand sich nicht zurecht in
Helsinki, sie hatte Angst vor dem Lärm und konnte nicht schlafen.
Und, was das Schlimmste war, sie lernte den Alkohol kennen und
verfiel ihm, genau wie vorher ihre Mutter. Nach einem Jahr brachte
Pekka sie und die Kleine, die damals drei wurde, wieder zurück in
der Hoffnung, zu Hause werde sie keinen Schnaps mehr
brauchen.«
»Und, hat es etwas genützt?« Anna
hörte atemlos zu.
»Letztendlich nicht. Pekka hielt es
nicht ohne sie aus, er geriet wieder in die Zerrissenheit, es ging
ihm nicht gut, und auch er trank immer mehr. Im Frühjahr ging er
wieder nach Lappland, und da passierte das Unglück. Marjas Bruder
Isak und Per, der Sohn ihres Bruders Matte, kamen dabei ums Leben.
Eine Rentierherde ist ausgebrochen und hat sie totgetrampelt, wir
wissen nicht genau, wie es passiert ist. Pekka war auf jeden Fall
darin verwickelt, man beschuldigte ihn wohl, die Tragödie
verursacht zu haben. Er kam aufgelöst zurück nach Helsinki, man
konnte kaum mit ihm sprechen, er sagte nur, es sei ein Unglück
geschehen, sein Leben sei verpfuscht, er werde so schnell wie
möglich nach Deutschland gehen. Mehr war nicht aus ihm
herauszubekommen, und er ging, innerhalb von einem Monat hatte er
alles geregelt und war fort. Schon wenige Monate später schrieb er,
dass er einen Pelzhandel in Elberfeld aufziehen wolle, und ich
schickte ihm die ersten Felle. Etwa nach einem halben Jahr begann
er, regelmäßig Geld für Riikka und Marja zu schicken. Ich
versuchte, es an Matte Turi weiterzugeben, aber der reagierte nicht
auf meine Briefe, ich bekam nur eine kurze Nachricht, dass er nicht
mehr mit Fellen handele. So musste ich mir neue Lieferanten suchen,
und das Geld für Riikka und Marja zahlte ich auf ein Konto
ein.«
»Er hat einfach so sein Kind
verlassen? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, das passt
doch gar nicht zu ihm.«
Anna sah mitgenommen aus, Lina
lehnte in der Sofaecke, auch sie war blass und sagte kein
Wort.
Minna fuhr fort. »Es ist so gewesen,
er hat wohl unter einem großen Druck gestanden. Für Riikka muss das
sehr schlimm gewesen sein, ich denke, es war das Trauma ihres
Lebens. Sie war gerade vier, als ihr achtjähriger Vetter Per und
ihr Onkel Isak starben und dann auch noch der Vater wegging. Per
war ihr Freund und Spielgefährte, außer ihm gab es kein anderes
Kind in der kleinen
sida, in der
sie lebten. Gleichzeitig wurde der Alkoholismus ihrer Mutter immer
schlimmer. Der Einzige, der ihr blieb, war ihr Onkel Matte, der
älteste Bruder von Marja. Und sie war das Einzige, was ihm blieb,
er war verwitwet, die Mutter seines Sohnes Per war bei der Geburt gestorben, und dann hatte er sein Kind
und seinen Bruder verloren. Er hörte auf, Pelztiere zu jagen, und
sie lebten ziemlich ärmlich von einer kleinen Rentierherde, Riikka
sagt allerdings immer, es habe ihr niemals etwas gefehlt, Matte
habe ihr Liebe gegeben und sie gut versorgt. Mit Marja ging es
allerdings immer mehr bergab, sie starb, als Riikka zehn war.
Vorher hatte sie ihrer Tochter aber noch die Adresse von Carl
gegeben, falls sie einmal Hilfe benötige, und Riikka schrieb ihm,
dass sie kommen und in Helsinki zur Schule gehen wolle.«
»Sie schrieb ihm ganz von sich aus?
Sie wollte ganz allein nach Helsinki gehen?«
»Ja, so war sie schon als Kind, und
so ist sie heute noch, hartnäckig und zielstrebig, sie fasst ihre
Entschlüsse und setzt sie durch, so schnell kann sie nichts davon
abhalten. Inzwischen war ich aus Tampere hierher gezogen und hatte
angefangen zu studieren. Ich suchte
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