Die Reise Nach Helsinki
Kräfte im
Gefängnis landen. Menschen wie Rosa Luxemburg können ein Lied davon
singen. Preußens Gloria. Nein, nein, damit will ich nichts zu tun
haben.
Sie ist das Kind meines Bruders, wie
du, hat Minna gesagt, na ja. Blut ist dicker als Wasser, dieser
dümmste von allen Sprüchen. Blut, Blut, ich will damit nichts zu
tun haben, für mich besteht es aus roten und weißen Blutkörperchen
und ein bisschen Serum, mehr nicht, genau, wie ich es den Kindern
in der Schule beibringe. Davon kommt doch das ganze Unglück, der
Hass, der Rassismus, die Intoleranz, die Vorstellung, dass ein Blut
mehr wert sein könnte als das andere.
Aufmüpfig ist sie, meine Riikka,
immer eine Widerrede, ein Dickkopf, wie er im Buche steht. Ja, ja,
Minna, vielleicht hast du ja sogar Recht. Aber wo wäre ich denn
wohl geblieben, wenn ich nicht so wäre? In Inari säße ich, in der
Kote mit Matte und irgendeinem Lappen als Ehemann, und würde rote
Kleider nähen, Lederbändchen besticken oder Knochenlöffelchen
schnitzen und zwischendurch kleine, schlitzäugige Lappenkinder
gebären, im Stehen, so, wie meine Mutter mich geboren hat. Indem
sie mich in eine Leinwand und ein Rentierfell wickelte, in eine
Holzwiege aus einem Baumstamm legte und am ersten Tag an gekochtem
Rentierfett saugen ließ, dachte sie, sie könne es wegmachen, dass
ich nur noch zu einem Viertel von ihnen war, dass in dem Rest von
mir das böse Blut der schwarz gekleideten Menschen [Bezeichnung der
Samen für Nichtsamen] pulsierte, unserem Unglück, unserem Fluch
über Generationen hinweg. Liisa war die Erste, er kam nachts zu ihr
und bereitete ihr Wonnen, das war das Schlimmste daran. Sie wollte
ihn nicht lassen und schrie brünstig in die Sommernächte. Matte,
Marja und Isak waren das Ergebnis, zum Glück waren sie kaum von den
anderen Kindern der sida zu unterscheiden bis auf Isak mit seinen hellen,
traurigen Augen. Sie wuchsen in Inari bei ihrer Großmutter auf, ihr
Vater, ein Norweger, kam irgendwann nicht mehr, nachdem Liisa jedes
Mal schreiend vor ihm auf dem Boden gelegen hatte, damit er ihr
Schnaps gab. Als er weg war, lief sie schon frühmorgens zu den
Bauernhöfen, wo sie sich für ein bisschen pirtu verkaufte, egal an wen. Für
Matte war es das Schlimmste, dass auch seine Schwester Marja sich
an einen Schwarzgekleideten wegwarf, und dann auch noch an einen,
der wie ein Ulda [Dämon, der durch seine Schönheit blendet und kleine Kinder
stiehlt] aussah mit seinen lachenden, blaugrünen Augen, denen man
bis auf den Grund sehen konnte. Damit verführt er sie, der Teufel,
sagte Matte, er treibt ein böses Spiel, um unsere Seelen
einzufangen.
Nachdem mein Vater fort war und
Matte und ich allein mit Marja zurückblieben, kein Per mehr mit mir
in der rauchigen Kote spielte, keine hellen Isakaugen mehr traurig
auf uns schauten, ersetzte Matte mir Mutter und Vater. Ich spüre
noch sein Zittern, wenn er mich abends auf den Schoß nahm und wir
uns aneinander drängten, und wie er ruhiger wurde, wenn wir uns
eine Weile gewiegt hatten und er leise anfing zu joiken, wie seine Melodien
durch die Luft hochwehten zum Sternenhimmel, der sich wie ein Dom
über Inari wölbte. Immer spürte ich seinen Blick auf mir, seine
Augen, die zu schwarzen Knöpfen wurden, wenn er Angst hatte, kein
Rentier durfte in meine Nähe kommen, ohne dass er nicht sofort bei
mir war. Niemals, niemals lässt Matte dich allein, hörst du, tyttö [ kleines
Mädchen ] ? Auch
Marja versorgte er wie ein Vater, er gab ihr den pirtu, den er bei den
Bauern kaufte, wie Medizin, aus einem Löffel flößte er ihn ihr in
den Mund, wenn sie zitterte und schrie, er ohrfeigte sie, wenn sie
den Schnaps stahl oder wie ihre Mutter auf die Bauernhöfe ging.
Ohne dich, ohne deine Liebe und deine Sorge wäre ich nicht am Leben
geblieben, Matte, Vatermutter, du warst gut und zärtlich zu mir wie
eine Frau. Du hast mich getröstet und mir Lichter angezündet in der
tiefsten Polarnacht, wenn die Sonne nicht mehr über den Horizont
kam und die Dunkelheit mich fast um den Verstand
brachte.
Ich habe von einer Lawine geträumt,
ein weißes, unaufhaltsames Schneefeld rutschte auf mich zu, es
hatte Rentiere unter sich begraben, nur die Beine guckten heraus,
dazwischen auch Menschenbeine, die strampelten und zuckten.
Vielleicht beschäftigt mich sein Tod doch mehr, als ich es
wahrhaben will. Natürlich hat es mich auch erschreckt, aber es hat
mich kalt gelassen, ich konnte nicht weinen wie Minna, die
untröstlich war und den ganzen
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