Die Reise Nach Helsinki
noch in dieser Woche, nicht
dass sie plötzlich wieder abgereist sind. Bevor man so ein
Sommerhaus am See nicht kennt, kennt man Finnland nicht«,
zwitscherte sie, »vielleicht am Donnerstag, da werden eure
Kommissare doch Zeit haben? Das Wetter soll gut werden, wir machen
ein Picknick bei Mitternachtssonne, das wird
wundervoll!«
Anna wollte nicht über die Zeit der
Kommissare verfügen, versprach aber, die Einladung auszurichten,
sobald sie angekommen waren. Sie beobachtete Minna, die, nachdem
sie ihr Glas ausgetrunken hatte, gehetzt aufstand und mit dem
Kellner
verhandelte.
»Ich muss los«, sagte sie, »seid mir
nicht böse, ihr seid meine Gäste.«
In der Droschke erzählte Anna Lina
von der Szene im Arbeiterhaus. »Ich bin fest davon überzeugt, dass
es der Russe war, zusammen mit einer Frau«, sagte sie, »obwohl ich
ihn nicht richtig gesehen habe, er war ganz verschwommen. Es ist
ein Gefühl, es war etwas in der Gestalt, in den Bewegungen, das ich
kannte. Hältst du es für möglich, dass ich schon Halluzinationen
habe?«
Lina legte den Arm um Anna. »Es ist
alles möglich. Vielleicht bist du überreizt, vielleicht laufen hier
auch Dinge ab, von denen wir keine Ahnung haben. Auf jeden Fall
sollten wir auf der Hut sein.«
Am Fiskarviken schwappte die dunkle
Ostsee unter dem bewölkten Mitternachtshimmel. Soderbergs hatten
ein Windlicht auf die Balustrade der Veranda gestellt, das ihnen
tröstlich entgegenleuchtete.
Anna saß auf dem Biedermeiersofa in
Minnas Wohnzimmer mit einem Schuhkarton auf dem Schoß, in dem Minna
alte Familiendokumente aufbewahrte: vergilbte Briefe und Ausweise,
viele in kyrillischer Schrift, gepresste Blumen, einen geklöppelten
Spitzenkragen, eine blassblaue Seidenschleife. Die achtjährige
Minna und der vierzehnjährige Pekka, der schützend den Arm um seine
Schwester legt. Zwei hübsche, blonde finnische Kinder mit traurigen
Gesichtern.
Niemals, niemals darf man böse zu
Kindern sein, kulta, Kinder sind eine Kostbarkeit, man darf ihnen
nicht wehtun, sie sind unsere Zukunft und unsere
Hoffnung.
Eine Zeichnung von Großmutter
Marjatta als junger Frau, empfindsam und lieblich, mit schmalem
Gesicht, strahlenden, leidenschaftlichen Augen und einem verzagten
Mund.
»Sie sah aus wie achtzig, als sie
mit achtunddreißig starb, von ihrer Schönheit war nichts übrig
geblieben«, sagte Minna bitter.
»Und von dem Großvater gibt es kein
Bild?«
»Es gab Fotografien von ihm, aber
ich habe alles verbrannt, ich möchte durch nichts an ihn erinnert
werden.«
Anna nickte, das konnte sie gut
verstehen.
Draußen ging die Türglocke, und
Minna öffnete. Anna horchte in den Flur und machte Lina ein
Zeichen, die in der angrenzenden Küche einen Kuchen buk.
Deutsche Männerstimmen, eine
schnarrende und eine weiche, rheinische, drangen herein, Annas Herz
klopfte.
»Sie sind da«, zischte sie Lina zu,
die sich schnell die Schürze abband.
Sie hatten beim Frühstück
diskutiert, ob sie die Kommissare am Mittag am Kai erwarten
sollten. Lina hatte dafür plädiert, einmal aus Höflichkeit, aber
auch, um ihre Aussagewilligkeit und Kooperationsbereitschaft zu
bekunden. Anna schwankte zuerst, wollte dann aber immer weniger
davon wissen.
»Die sollen nicht denken, dass wir
ihnen nachlaufen«, zeterte sie, »nein, nein, die sollen mal schön
uns aufsuchen.«
Dann waren sie zu Minna gegangen, um
die Familiendokumente anzusehen, aber Anna war die ganze Zeit
unruhig gewesen und bei jeder vorbeifahrenden Droschke ans Fenster
gelaufen.
Als Hugo hereinkam, lief über ihr
Gesicht eine rosige Welle, sie strahlte ihn an und Kommissar Emil
Hohenstein gleich mit, der seinen gestutzten und gewichsten
Schnauzbart hinter Hugos Schulter hervorreckte. Hohenstein lächelte
erstaunt zurück, dann begrüßte er sie und Lina mit vollendeter
Höflichkeit und einem angedeuteten Handkuss, der bei Anna fast
einen Lachanfall hervorrief.
Hugo war verlegen und berichtete,
sie seien im Hotel »Kämpi« abgestiegen und hätten bereits mit ihrem
finnischen Kollegen gesprochen, der sie vom Schiff abgeholt habe.
Dann seien sie bei Soderbergs vorbeigefahren, dort habe man ihnen
gesagt, wo Fräulein Salander und Fräulein Pasche sich aufhielten,
da seien sie gleich hergeeilt.
Aus der Küche kam der Duft von
frischem Butterkuchen, Minna bat an den Kaffeetisch.
Hugo saß neben Anna, er strahlte wie
sie und legte ihr immer wieder die Hand auf den Arm, während er von
der Reise erzählte. Lina betrachtete ihn,
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