Die Reise Nach Helsinki
dürfen. Außerdem muss man ja nicht gleich
heiraten, wenn man es gelegentlich mit einem Mann zu tun haben
will, das ist mir zum Glück nicht ganz verloren gegangen.« Sie
lächelte, der Schein der im Kamin hochschlagenden Flammen streifte
ihr Gesicht mit den leuchtenden Finnenaugen.
Mitternacht war schon vorbei, als
Minna sich verabschiedete. Anna und Lina brachten sie zum
Droschkenstand.
»Erst jetzt werden mir viele
Verhaltensweisen von Papa richtig klar, seine Vorsicht, seine
Besorgtheit, ob alles in Ordnung war«, sagte Anna zu Lina auf dem
Rückweg. »Wahrscheinlich hatte er immer Angst, er beschütze einen
nicht richtig, weil er seine kleine Schwester nicht hat beschützen
können.«
Niemand darf dich anfassen, von dem
du es nicht willst, kulta, hörst du? Niemand darf über dich
bestimmen, nur du allein. Wenn dir jemand gegen deinen Willen etwas
tun will, dann schreist du ganz laut, dann kommt isi und hilft dir,
ja? Versprichst du mir das?
»Vielleicht mochten ihn die Frauen
deshalb so sehr, er hatte Respekt, er war rücksichtsvoll, er
gestand ihnen einen eigenen Willen zu, das ist ja weiß Gott keine
Selbstverständlichkeit«, sagte Lina.
Als sie im Bett lagen, war Pekka bei
ihnen und blies ihnen leise über die Wangen, bis sie eingeschlafen
waren.
*
Minna zeigte ihnen die Stadt, sie
machten eine Hafenrundfahrt und fuhren mit einem Ausflugsdampfer
zur Festung Viapori, wo ihnen ein plötzlicher Einbruch von Regen
und Kälte eine Vorstellung davon gab, wie ungemütlich der Norden
sein konnte. Die Finnen ließ das relativ unbeeindruckt, bei
vierzehn Grad blieben sie leicht gekleidet mit bloßen Armen und
Beinen, als sei es Hochsommer. Anna und Lina hüllten sich in ihre
Pullover und hörten schaudernd Ullas und Minnas Bericht über den
südfinnischen Winter an, wenn das Thermometer auf zwanzig oder
dreißig Grad minus fiel, die Sonne nur wenige Stunden am Tag über
den Horizont stieg, man sich ohne Wollunterwäsche, dicke Pelzmäntel
und Filzstiefel nicht nach draußen wagen konnte und in der
Silvesternacht die Betrunkenen zu Dutzenden erfroren.
Am Samstagabend kochten Lina und
Anna für alle, dann offenbarte Lina, wiederum unter entsetzlichen
Qualen, ihr Verhältnis zu Pekka. Wie sie erwartet hatten, stieß sie
bei Minna und Soderbergs auf Toleranz und Verständnis für ihre
schwierige Lage.
Am Sonntag, dem Tag vor der Ankunft
der Polizisten, war es immer noch bedeckt, aber nicht mehr so kalt.
Sie waren für den Abend mit Minna verabredet, die mit ihnen eine
Versammlung der sozialdemokratischen Frauen im Arbeiterhaus am
Djurgardsvägen besuchen wollte. Der Abend stand unter dem Motto:
»Verhütung - der Weg zur Freiheit«, und Minna hatte eine Feministin
aus Stockholm angekündigt, die die neuesten Erkenntnisse über
Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung vortragen
wollte.
»Wir sozialdemokratischen Frauen
halten seit neuestem unsere eigenen Versammlungen ab«, sagte Minna,
mit der sie sich an der Västra-Chaussee getroffen hatten. »Die
Männer interessieren sich nicht die Bohne für die Frauenfrage, sie
meinen, mit dem Wahlrecht hätten wir alles erreicht. Sie reden nur
über die bösen Schweden und Russen, den Klassenkampf und die
Zusammenarbeit mit den Bolschewisten. Außerdem feilschen sie um die
Pöstchen in der Partei und darum, wer den nächsten internationalen
Kongress besuchen darf. An eine Frau würden sie dabei niemals
denken, wie denn auch, wir sind ja durch die häuslichen Pflichten
sowieso nicht abkömmlich. Nein, nein, die bringen uns nicht weiter,
das müssen wir schon selbst in die Hand
nehmen.«
»Auch sozialistische Männer sind
Männer«, schimpfte Anna, »das haben die Berliner Frauen auch immer
beklagt, das ist bei euch nicht anders als bei uns. Sie betrachten
uns als Gebärmaschinen, das Kinderkriegen ist ganz allein unsere
Privatsache und das Großziehen auch. Und die Herren Väter gehen
sich abends in der Wirtschaft betrinken, damit sie das
Kindergeschrei nicht hören müssen.«
Im Versammlungsraum im Parterre des
Arbeiterhauses saßen etwa zwanzig Frauen auf Holzstühlen im Kreis
und redeten durcheinander. Das Referat des Abends sollte Selma
Lundblom halten, eine schwedische Ärztin, die sich auf
Frauengesundheit spezialisiert hatte und eine Vortragsreise durch
Finnland machte.
Minna, die als Versammlungsleiterin
fungierte, stellte Lina und Anna ihrer Freundin und Kollegin Terttu
Salmi vor, die ebenfalls gut deutsch sprach und für die
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