Die Reisen des Paulus
Seemann war, so hatte er doch den Oberbefehl inne, es sei denn, an Bord befand sich ein noch ranghöherer Offizier als er. An der Beratung nahm auf Einladung des Hauptmanns auch dieser ältere Jude teil.
Er sei erfahren und weitgereist, hieß es, er habe mehrere Schiffbrüche überlebt und sei bestens mit Klima und Wetter des östlichen Mittelmeeres vertraut.
Das Ergebnis der Bordkonferenz wurde von dem Arzt,
der offenbar auch Literat war, festgehalten. Man entschied, 17
daß Schönhafen nicht zum Überwintern geeignet sei. Das Schiff sollte baldmöglichst den Hafen Phönix anlaufen. Dieser lag im Nordwesten und galt als der einzige wirklich sichere Winterhafen in Südkreta. Um ihn zu erreichen, mußte man die Bucht jenseits von Kap Matala durchkreuzen. Zwar kam es bei Nordwind auch in Phönix zu starken Böen, aber die Schiffe waren sicher, wenn sie guten Ankergrund hatten und mit doppelten Achtertauen am Steinkai festgemacht wurden.
Selbst wenn der Wind nach Süden drehte, stand er selten direkt gegen die steil abfallenden Berge, die Stadt und Hafen umgaben. Nur einer war nicht der Meinung, daß man in Phö-
nix überwintern sollte, und zwar dieser ältere Jude. Er sagte, wenn sie weiterführen, würden sie bestimmt des Schiffs, der Fracht und womöglich ihres Lebens verlustig gehen. Julius hatte sich bereits dem Urteil des Kapitäns und des Se-gelmeisters angeschlossen und entschied sich natürlich dafür, Phönix anzusteuern. Im Augenblick schien dies das einzig Richtige. Während das Schiff in Schönhafen vor Anker lag, gingen die Passagiere an Land und handelten mit den Ortsansässigen um Frischgemüse, Fleisch und Wein. Die Kreter waren mürrische und widerborstige Leute. Ihre römischen Herren mochten sie ganz und gar nicht. Auf einen bestimmten Mann machten sie gewiß einen schlechten Eindruck. Der bärtige Jude schrieb später in einem Brief an einen Freund:
»Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche.« Damit zitierte er zwar nur den kretischen Dichter Epi-menides, aber gewiß hatte er etwas ganz Bestimmtes im Sinn, als er sich zu diesen Worten veranlaßt sah. Wie viele andere Reisende vor ihm und nach ihm war er wohl von Ortsansässigen übers Ohr gehauen worden, als er etwas einkaufte.
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Sie warteten auf einen Südwind, der sie flott an der Kü-
ste entlangtreiben und, wenn sie sich nach Phönix wandten, von achtern wehen würde. Und dann setzte tatsächlich Südwind ein. Einige gingen zum Steinaltar am Heck, über den die meisten Schiffe dieser Größe verfügten, und brachten den Göttern ein Trankopfer dar. Sie empfahlen sich in ihre Obhut und beteten um eine sichere Ankunft. Der Jude und seine beiden Begleiter fielen durch Abwesenheit auf. Aber man wußte ja, daß die Juden ein seltsames Volk waren. Sie verachteten alle anderen, verehrten einen absonderlichen Gott eigener Erfindung und neigten zu dem Glauben, daß alle anderen Völker der Welt verdammt seien. Sie waren Störenfriede im römischen Reich.
Das Schiff nutzte den Südwind und fuhr dicht an der Küste entlang. Wenn man Kap Matala umrundet hatte und der Wind günstig blieb, waren es nur noch fünfzig Meilen bis Phönix. Aber die unmittelbare Küstennähe brachte auch Gefahren mit sich. Wenn nämlich der Wind nach Norden umschlug, sausten entsetzliche Sturmböen über die Hän-ge. Sie waren so stark, daß sie selbst ein gutgebautes Schiff entmasten konnten. Man kannte sie als »weiße Böen«, weil man ihr Herannahen daran sah, daß das Wasser durch die Gewalt des Windes zu Gischt zersprüht wurde. Nur wenn der Seemann die Küste genau im Auge behielt, konnte er sofort die Segel streichen oder, falls die Zeit dazu nicht mehr ausreichte, sich vor dem Wind treiben lassen. Und genau das geschah mit dem römischen Getreideschiff. Von Nordosten kam eine Bö herangefegt. Der Steuermann mühte sich an der Spake ab, mit der sich die beiden langen Steuerru-der kontrollieren ließen. Er drehte bei. Die Matrosen stürm-19
ten übers Deck, um das Großrahsegel niederzuholen und so den Druck des Windes zu mindern. Andere refften die übrigen Segel. Doch hier handelte es sich nicht um eine Bö, die gleich wieder vorbei war. Der Euroclydon, der wilde Nordost, der gefährlichste Wind im östlichen Mittelmeer, hatte eingesetzt. Man konnte sich nur treiben lassen und gerade so viel steuern, daß das Schiff keinen Schaden nahm.
Dreißig Meilen weiter südwestlich lag die kleine Insel Klauda. Sie ragte 300 Meter aus dem Meer
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