Die Reisen des Paulus
über die Maßen aufgebracht zu haben schienen, redete er mit lauter Stimme zu ihnen. Alle hätten sich geirrt, sagte er, man hätte auf sei-22
nen Rat hören und in Schönhafen bleiben sollen. Wer auch nur noch einen Funken Energie im Leibe hatte, muß gute Lust gehabt haben, diesem von sich selbst überzeugten Bur-schen zu empfehlen, er möge doch lieber über Bord springen. Jetzt tönte er hochtrabend von irgendeinem Gott, dem er diente, und dieser Gott habe im Traum zu ihm gesprochen und versichert, sie würden allesamt mit dem Leben da-vonkommen. Anscheinend hatte er sich darauf berufen, als römischem Bürger müsse ihm der Prozeß vor dem obersten römischen Gericht gemacht werden, also vor dem Cä-
sar selbst, und dieser Gott, sein Gott, versprach ihm, daß er heil nach Rom gelangen sollte. Und wenn man richtig ge-hört hatte, würden sie an einer Insel stranden, das Schiff sei verloren, aber sie würden alle überleben. Wieder einmal ein Eiferer! Im Osten wimmelte es von solchen Leuten … Wer war dieser Mann?
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K O
Er war Jude von Geburt, römischer Bürger und Revolutionär. Er wollte im ganzen römischen Imperium Ge-
meinden aufbauen, die nicht dem Staat, sondern einem übernationalen religiösen Königreich Untertan waren. Er und seine Anhänger glaubten, daß das Ende der Welt nahe herbeigekommen sei und daß nur sie, gänzlich verwandelt, überleben würden.
Er stammte aus der Stadt Tarsus im südlichen Kleinasien und kam zur Welt, als der Kaiser Augustus regierte, in den ersten Jahren jener Ära, die wir heute als das christliche Zeitalter bezeichnen. Am achten Tag nach seiner Geburt wurde er jüdischem Brauch gemäß beschnitten und Saulus genannt. Er erhielt den Namen des ersten Königs von Israel, jenes tapferen, impulsiven und ungestümen Mannes aus dem Stamme Benjamin. Die Benjamiter waren als große Kämpfer bekannt. Sie standen immer in der vorder-sten Schlachtreihe. Diese Auszeichnung hatten sie sich verdient, weil sie beim Auszug der Juden aus Ägypten als erste durchs Rote Meer gegangen waren. Der Knabe bekam auch einen römischen Namen: Paulus – Paul. Er war »ein jüdischer Mann«, aber später rühmte er sich auch, Bürger von Tarsus zu sein, »einer namhaften Stadt in Cilicien«. Es bedeutete ihm nicht nur viel, aus dem Judentum zu kommen. Sein römisches Bürgerrecht war ihm ebenfalls wichtig. Wenn auch das Jüdische in seinem Temperament vor-herrschte, so blieb er sich doch stets der Ehre bewußt, als römischer Bürger geboren zu sein. Wie seine Familie sich 24
dies Bürgerrecht erworben hatte, ist unbekannt. Vielleicht gehörte sein Vater oder Großvater zu denen, welchen Mark Anton das römische Bürgerrecht zu der Zeit verlieh, als er Kleopatra so stürmisch den Hof machte.
Römischer Bürger zu sein war keine geringe Ehre. Im Jahre 47 n. Chr. ließ Kaiser Claudius im ganzen Reich eine Volkszählung vornehmen. Die dazu abgestellten Beamten vermeldeten, daß nicht einmal sechs Millionen von insgesamt etwa achtzig Millionen römische Bürger waren. Der römische Bürger hatte nicht nur das Wahlrecht, sondern auch die Garantie, daß er ohne ordentliches Gerichtsverfahren nicht körperlich gezüchtigt werden durfte.
Das römische Recht schützte ihn. Wenn er eines Kapitalverbrechens beschuldigt wurde, konnte er die höchste Ge-richtsinstanz anrufen – den Kaiser selbst. Würde und Er-habenheit des Gesetzes waren die Grundlagen, auf denen das ganze Reich ruhte. Es war einzigartig in der antiken Welt. Cicero schrieb: »Ohne das Gesetz wäre der Staat wie ein Leib ohne Geist …« Tarsus, der Geburtsort dieses rö-
mischen Juden, war die Hauptstadt der Provinz Cilicien.
Tarsus lag am Cydnus-Fluß, etwa zwanzig Kilometer von dessen Mündung entfernt. Ursprünglich wohl eine griechische Siedlung, hatte die Stadt mittlerweile stark orientalischen Charakter angenommen. (Es gab eine Überlieferung, wonach Tarsus von Sardanapal, dem letzten großen König des assyrischen Reiches, gegründet worden sein soll.) Trotz griechischer Einflüsse und der von Mark Anton angeord-neten Erneuerung im römischen Sinne war Tarsus eine Be-gegnungsstätte der Völker und Kulturen geblieben: hier kamen Juden, Kleinasier, Syrer, Perser und Phönizier, Grie-25
chen und Römer zusammen. Tarsus war vor allem wegen seines hervorragend sicheren Hafens bedeutend. Der Hafen wurde von einem See gebildet, den die Stadt umkränz-te. Außerdem lag sie an einer
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