Die Reisen des Paulus
und die Gefangenen. Das Küstenfahrzeug war nur eine Zwischenlösung, er wollte damit nur bis Myra kommen. Das klassische Segeljahr ging seinem 9
Ende zu. Nach dem 15. September wagten sich nur noch wenige Hochseeschiffe hinaus. Etwa dreihundert Jahre spä-
ter schrieb der römische Militärexperte Vegetius: »Von Mitte September bis zum dritten Tag vor den Iden des November (10. November) ist die Seefahrt unsicher. Danach«, so fährt er fort, »sind die Meere nicht mehr befahrbar.« Abgesehen von wichtigen Truppentransporten und dem Einsatz von Depeschenbooten in Notfällen wurde es auf dem ganzen Mittelmeer bis Ende Mai still. Der Hauptmann war darauf bedacht, seine Gefangenen sicher nach Rom zu be-fördern. Er rechnete darauf, ein Kauffahrteischiff zu finden, das jetzt noch in See stach, weil der Schiffseigner oder Kapitän den Anschluß an den winterlichen Getreidemarkt nicht versäumen wollte. Aus gutem Grund konnte er sich darauf verlassen, in Myra ein geeignetes Schiff zu entdek-ken, denn oft mußten Frachter aus Alexandria wegen der Westwinde nach Norden ausweichen und in Myra auf einen günstigen Wind warten, der sie nach Rom blies. Julius fand sein Schiff. Es war ein großer Getreidefrachter aus Alexandrien mit dem Zielhafen Puteoli. An Bord befanden sich etliche Passagiere, darunter zweifellos auch Römer, die unter anderem die ägyptischen Sehenswürdigkeiten besucht und die Pyramiden angestaunt hatten (die damals noch mit Marmor verkleidet waren). Außerdem fuhren Tänzer, Sklaven und Unterhalter mit, die für die Paläste Roms bestimmt waren. Das Schiff gehörte vielleicht zur kaiserlichen Han-delsflotte. Die Ankunft des Hauptmanns mit seinen Gefangenen wird man recht gleichgültig hingenommen haben, waren doch bewachte Verbrecher in jenen Tagen ein gewohnter Anblick auf den Land- und Seewegen des Reiches. Ein be-10
stimmter Gefangener könnte hingegen Aufmerksamkeit erregt haben, denn es lag auf der Hand, daß er eine bedeutende Persönlichkeit war. Der Hauptmann behandelte ihn mit Hochachtung, mehr noch: Mit großer Anteilnahme lauschte er auf alles, was der andere zu sagen hatte. Das Verhalten des Gefangenen ließ darauf schließen, daß er aufmerksame Zuhörer gewohnt war. Manchmal leitete er seine Bemer-kungen mit einer rhetorischen Geste ein, mit einer Hand-bewegung, die Schweigen zu gebieten schien. Zwei Reisege-nossen begleiteten ihn – vielleicht Sklaven. Beides Griechen, der eine offenbar Arzt, der andere Leibdiener.
Der Mann strahlte etwas seltsam Bezwingendes aus, obwohl seine äußere Erscheinung nicht eben anziehend genannt werden konnte. Gewiß war er weder jung noch
gutaussehend – als Mitpassagier hätte man sein Alter wahrscheinlich auf fünfundfünfzig oder darüber geschätzt. Er war fast vollständig kahlköpfig, hatte aber einen dichten, schon etwas grauen Bart. Sein Gesicht zeigte einen mun-teren, lebendigen, geradezu fröhlichen Ausdruck. Die Nase war lang und gebogen. Ein levantinisches Gesicht – vielleicht ein Jude? Übers ganze Reich verstreut lebten Juden.
Doch das eigentlich Bezwingende an diesem Mann wa-
ren seine Augen: graue, strahlende Augen unter buschigen, überhängenden Brauen, die in der Mitte zusammengewach-sen waren. Er war schmächtig und ging ein wenig gebückt.
Sein Gesicht, sein Betragen, sein ganzes Auftreten ließen vermuten, daß er eine Autorität war. vielleicht ein weitgereister Herr, der sich oft auf Schiffen aufgehalten und viele Seefahrten unternommen hatte. Aber das Kauffahrteischiff lag noch am Kai, die Passagiere waren mit ihren eigenen An-11
gelegenheiten beschäftigt, kümmerten sich um ihre Habe, sahen zu, daß sie gut untergebracht wurden, kauften zusätzlichen Proviant, damit sie auf der langen Reise anständig zu essen bekamen, und so machte sich kaum jemand Gedanken über einen Levantiner unter Bewachung. Die Zeit verstrich, man mußte sich beeilen, und allen war, wenn auch aus verschiedenen Gründen, daran gelegen, Puteoli am schönen Golf von Neapel zu erreichen. Geschäft oder Vergnügungen riefen sie. Nicht anders als heute hielten sie die Zeit- und Weltläufe in Bann, ob sie wachten oder träumten.
Abgesehen von der Crew, dem Kapitän, dem Steuermann und den anderen Offizieren befanden sich 276 Passagiere an Bord. Wahrscheinlich hätte das Schiff noch viel mehr aufnehmen können – auf Getreidefrachtern dieses Typs fuhren manchmal 600 Passagiere mit. Doch das Segeljahr ging zu Ende, und die meisten Reisenden hatten sich
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