Die Reisen des Paulus
re-inkarniert, die den Eingang zum Tempel bewachten. Wie alle Zeustempel stand auch dieser unmittelbar vor dem Stadttor. Er war Lystras ganzer Stolz, ein Bau, der in der Zeit der Kolonisierung durch die Griechen entstanden sein muß. Für die Hiesigen – schlichten Gemüts – war er sichtbarer Beweis dafür, daß die Geschichte von Philemon und Baucis stimmte. Sie blickten den hochgewachsenen Barnabas an, der Kraft und Würde ausstrahlte, aber das Reden meist dem faszinierenden kleinen Mann an seiner Seite überließ, und es schien ihnen, als stünden da Zeus, der 197
Göttervater, und Hermes, der Götterbote. Ja! Das war es!
»Die Götter sind den Menschen gleich geworden und zu uns herniedergekommen!« riefen sie. In Frösche wollten sie sich nicht verwandeln lassen, nein, diesmal wollten sie die Versäumnisse der Lykaonier von einst wiedergutmachen und den Göttern alle Ehre erweisen. Die Neuigkeit machte die Runde und kam bald auch dem Oberpriester des Zeustempels zu Ohren. Ochsen wurden herangeschafft, Opfertiere mit vergoldeten und bekränzten Hörnern, und man improvisierte eine Prozession. Flötenspieler schritten voraus, dann folgten der Priester und seine Gehilfen und hinter ihnen die Ochsen und das Volk. Auf nach Lystra, um Zeus und Hermes zu opfern!
Barnabas und Paulus hatten sich in ihre Behausung zu-rückgezogen und ahnten nicht, was ihnen zu Ehren vorbereitet wurde. Doch als die Prozession draußen haltmachte, müssen sie oder ihre Gastgeber plötzlich begriffen haben, was das Ganze bedeutete. Nichts hätte sie mehr entsetzen und betrüben können – das war genau jener abergläubische Unsinn, den sie auszumerzen versuchten. Angewidert von dieser Gotteslästerung zerrissen Paulus und Barnabas ihre Kleider und stürzten aus dem Haus. Hermes rief laut:
»Ihr Männer, was macht ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen gleichwie ihr und predigen euch das Evangelium, daß ihr euch bekehren sollt von diesen falschen Göttern zu dem lebendigen Gott, welcher gemacht hat Himmel und Erde und das Meer und alles, was darinnen ist.« Die Menge verstummte vor dieser leidenschaftlichen Rede, schwieg, als Paulus zu sprechen fortfuhr und sagte, Gott habe vormals alle Völker ihren eigenen Weg gehen lassen, aber sich be-198
zeugt und ihnen Regen vom Himmel und fruchtbare Zeiten und Nahrung und Glück gegeben.
Der Priester und das Volk, die gekommen waren, um
den Männern, die sie für Götter hielten, die größte Ehre zu erweisen, die sie zu bieten hatten, standen wie vom Donner gerührt. Die Zurückweisung des Opfers war schlimm genug, aber daß sie auch noch angeschrien und ausgeschol-ten wurden, das konnten sie nicht ertragen. Sie hatten ihre Hochachtung bezeigen und opfern wollen, und dann sollte der große, fröhliche Tag mit Essen und Trinken, mit Fleisch und Wein, mit Gesang und Tanz gefeiert werden. Und nun beleidigte sie dieser Mann, von dem sie geglaubt hatten, er sei Hermes. Dabei war er nichts weiter als ein kleiner, bärtiger und kahlköpfiger Jude. Also keine Götter. Und was nun?
Jüdische Getreidehändler aus Ikonion und Antiochien, die sich zufällig unter die Menge gemischt hatten, nutzten flink ihre Chance. Sie sagten allen, diese Männer seien berüchtigte Unruhestifter. Man habe sie schon aus Antiochien und Ikonion vertrieben. Das beste, was die Leute von Lystra tun könnten, sei, sie mit Schimpf und Schande davonzujagen.
Und bald flogen die Steine gegen sie.
Bemerkenswerterweise wird Barnabas von der Apostel-
geschichte im Zusammenhang mit der Steinigung nicht erwähnt. Vielleicht stieß man ihn verächtlich beiseite, vielleicht richteten sich Enttäuschung, Haß und Wut ausschließlich gegen Paulus. Nun befand er sich, wenn auch aus anderem Grunde, in einer ähnlichen Lage wie damals Stephanus. Später schrieb er im zweiten Korintherbrief: »Ich bin … einmal gesteinigt …« Verwundet und blutend kauerte sich Paulus auf dem Boden zusammen. Steine trafen ihn.
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Haß schlug ihm entgegen. In der Annahme, er sei schon tot, schleiften ihn Leute aus dem Mob aus der Stadt hinaus, um innerhalb der Mauern keinen Toten liegen zu haben. Sie waren einem furchtbaren Irrtum aufgesessen. Zu glauben, daß dieses Häufchen Elend, dieser zerschundene Leichnam ein Gott sei! Vor ihnen, im Tempel aus Marmor und Gold, befand sich der wahre Gott – Zeus, König des Himmels und des Olymps. Ihm kam das Opfer zu, ihm zu Ehren sollte der Wein fließen, ihm zu Ehren sollten die Flöten in der
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